Ilse

Ich traf Ilse – ein letztes Mal nach langer Zeit – zu später Stunde in einem Lokal, ich weiß heute nicht mehr, wo das war. Wie vertraut war mir dieses Gesicht! Wir plaudern, trinken, lachen… Sie ist inzwischen verheiratet, wir gehen zu ihr. Ich umarme sie, als wäre nichts zwischen uns, als wäre alles, wie es einmal war…
„Du bist so rücksichtsvoll!“ Dann schliefen wir ein, als wären wir zuhause.
Noch nie hat ein Telefon so schrill geläutet. Es ist zwischen 5.00 und 6.00 Uhr.
„Du bist noch da?“ Hastig ziehe ich mich an. Die Luft ist rau, ich laufe durch die Straßen…

Wir hatten uns kennen gelernt, als sie sich für eine Stelle in dem Verlag bewarb, in dem ich damals arbeitete. Nach zwei Tagen stellte sie fest, das sei nicht, was sie sich vorgestellt hatte und ging. Auf der Straße trafen sich unsere Blicke, und es war alles klar. Wir verabredeten uns. Sie war, was man einen schwierigen Typ nennt, die Frau meines Lebens, obwohl wir nie wirklich zusammen lebten. Oft war sie bei mir, einmal war ich bei ihrer Mutter eingeladen. Und sie war, wie sich herausstellte, die Freundin einer Freundin meiner Schwester. Von ihr erfuhr ich, dass Ilse schon mehrere Selbstmordversuche hinter sich hatte und – vermutlich von ihrem Stiefvater – missbraucht wurde. Deshalb schwierig, deshalb Probleme mit Beziehungen.
Und ich liebte sie, wie keine andere. Wir verbrachten Ostern in Kairo, in einem Hotel ganz in der Nähe der Pyramiden. Einmal, zu nächtlicher Stunde, bestieg ich die Pyramide, um mich abzureagieren. Nicht so einfach, weil verboten, viele sind hier schon zu Tode gekommen. Aber mit einem einheimischen Führer, der es sich bezahlen lässt, geht auch das. Ein wundervoller Blick über die nächtlich beleuchtete Stadt…
Ich weiß nicht mehr, wie lange diese Beziehung gedauert hat. Irgendwann verloren wir uns aus den Augen.
„Du bist so rücksichtsvoll!“ Die Worte sind in meiner Seele eingebrannt.
Als ich die Freundin meiner Schwester einmal traf, erfuhr ich, dass Ilse sich endgültig umgebracht hat. Ich versuchte zu vergessen…

Als ich Ilse kennenlernte, war ich 31. Mit 62 begegnete ich einer Sängerin, die mich faszinierte, doch war mir nicht bewusst, warum. Da sie nichts empfand, war die Sache eigentlich bedeutungslos. Bis mir auffiel, dass ihr Name, hätte man ihn hebräisch geschrieben – Ilse hatte ein Faible für das Hebräische – derselbe war, weil man da nur die Konsonanten schreibt. Sie hatte auch gar keine Ähnlichkeit mit Ilse, und doch erinnerte mich alles an sie. Plötzlich bemerkte ich, dass ich Ilses Selbstmord verdrängt und nie verarbeitet hatte.
Ilse wurde wieder lebendig, war mir nahe wie damals. Die Freundin meiner Schwester ist Fotografin und hatte Ilse oft fotografiert und gefilmt. So besorgte ich mir ein Buch, in dem auch Bilder von Ilse waren und eine DVD mit einem kurzen Stummfilm mit ihr. Den Film konnte ich mir lange nicht ansehen.
Und dann bemerkte ich unter einer Fotoserie, dass im Bildtext ihr Todesdatum stand. Es war ein Tag vor meiner Hochzeit…