Eine Hauptrolle in dem Buch spielt Arsenios Kardamakis, der in Kreta geborene und im Kloster Epanosifi zum Mönch gewordene Metropolit von Österreich und Exarch von Ungarn und Mitteleuropa. Es ist aber keine Biographie, sondern seine Gedanken ziehen sich durch das Buch. Eine Wanderung zwischen zwei Welten, zwischen Zeiten und Kulturen.
Da wären einmal drei Namen, die vieles verbindet: Metropolit Arsenios Kardamakis, Nikos Kazantzakis und Dominikos Theotokopoulos, genannt El Greco. Sie waren Kreter, sie emigrierten, und diese Emigration ist Erweiterung des Horizonts unter Bewahrung der Wurzeln. Das geografische Dreieck ist Kreta, Toledo und Wien. Wieder trifft man auf viele Gemeinsamkeiten. Und dann gibt es wunderbare Dialoge: zwischen dem Autor und den Mönchen von Epanosifi, zwischen Kazantzakis und der Religion, zwischen El Greco und den Menschen von Toledo, zwischen Toledo und Rainer Maria Rilke. Immer geht es – in verschiedensten Variationen, auch beim angeblich atheistischen Kazantzakis – um denselben Dialog, den zwischen diesem und einem transzendenten Leben.
Dazwischen erfährt man viel über die Geschichte Kretas, die von Okkupationen aus Ost und West (die Minoer als erste europäische Hochkultur, Mykener, Dorer, Römer, Byzantiner, Araber, wieder Byzantiner, Venezianer, Osmanen, Ägypter, wieder Türken und Briten, dann Vereinigung mit Griechenland, zuletzt die Deutschen) geprägt ist. Damit ist Freiheit der zentrale Wert und das Lebenselixier der Kreter geworden – bis hinein in das mönchische Leben. Das Kloster von Epanosifi ist eine Gemeinschaft von Individualisten. Der Metropolit, der alljährlich zu seinen Wurzeln im Kloster zurückkehrt, erklärt, dass er unmöglich in einer Klostergemeinschaft leben könnte, in der alles genau geregelt und vorgeschrieben ist. Das Mönchsleben sei ein Blick in die Weite, in eine Empfindung von Freiheit und Gelassenheit. Trotzdem sei das spirituelle Leben nicht einfach und vergnüglich, sondern immer auch ein Kampf. Innerlich wie äußerlich, denn die Mönche kämpften sehr oft an der Seite des unterdrückten Volkes. So gibt es im Empfangsraum des Klosters auch ein Bild mit zwei Mönchen in Kampfmontur, die Gewehrkolben lässig neben den Stiefeln. Der Metropolit betont: „Die orthodoxen Klöster sind Teil der Gesellschaft und eng mit den Menschen verbunden.“
So ist es kein Wunder, dass auch die Finanzkrise die Mönche beschäftigt. Dazu sagt Vater Makarios: „Ich bin ganz sicher, dass sie in einer spirituellen Krise wurzelt, die schon lange vor der Finanzkrise da war.“ Und dass sie weniger ein Mangel an Geld als ein Mangel an Sinn, ein Mangel an Herz sei. So kann auch die Lösung keine finanzielle oder politische sein, sondern nur eine Änderung des Lebensstils: „Wir müssen wieder lernen, einfach zu leben.“
Kämpfen
Aber wie verträgt sich der Freiheitskampf mit der christlichen Friedfertigkeit? Anscheinend kann die östliche oder orthodoxe Kultur besser mit Widersprüchen umgehen als der Westen mit seiner fragmentierenden Logik. Der Metropolit ist gegen einseitige Interpretationen der Bibel. Dort stehe beides: Man soll sanftmütig wie die Taube, aber auch klug wie die Schlange sein, nicht nur friedfertig, sondern auch kämpferisch.
Das mönchische Leben ist nicht Beschaulichkeit, sondern als Kampf. Vater Dorotheos erklärt das am Beispiel der Herzensgebets: Zuerst muss man zum „immerwährenden Beten“ kommen, das heißt nicht, dass man ständig betet, sondern dass man unterbewusst alles aus dem Gebet heraus tut. Das scheint vielen als das Ziel, aber das ist erst der Anfang. Es geht nicht um Triumph, sondern um Bescheidenheit. Der Erfolg des Gebets ist ernüchternd und beängstigend zugleich. Man beginnt, Dämonen zu sehen und muss wachsam wie ein Krieger sein. Auf der nächsten Stufe leuchten viele kleine Lichter auf, aber auch die stammen vom Dämon. Auf der nächsten Stufe wartet eine schwere Erschütterung, der Mönch blickt in den Abgrund des Chaos, begleitet vom tiefen Entsetzen. Es folgen schwere Zeiten. Dann sucht er – nun aus tiefstem Herzen – seine Zuflucht bei Jesus Christus und bittet um sein Erbarmen. Und auf der fünften Stufe kommt der Paraklet, der Tröster, der Hl. Geist. Erst jetzt ist das Feld offen und rein. Wunder können geschehen, das Tor zum Paradies ist offen. Und es kann sein, dass das ungeschaffene Licht, das „Tabor-Licht“ aufleuchtet. Der Mönch hat jetzt Anteil an der Wahrheit, kommuniziert mit der Wahrheit. Die ganze Wahrheit ist nämlich nicht zu haben. Für die Fülle der Wahrheit ist der Mensch nicht groß genug, das übersteigt sein Fassungsvermögen. Wer noch nicht realisiert hat, dass es eine (bewusste, unterbewusste und unbewusste) Psyche gibt, wird das als religiöse Fantasie abtun. Wer sich nur ein bisschen damit beschäftigt hat, wird erkennen, dass in der Religion mehr Psychologie steckt als im „modernen“ Leben. Allerdings eine Psychologie, die nicht an den Grenzen der Psyche endet.
Bürger zweier Welten
Kreta ist durch seine Geschichte zum ökumenischen Territorium geworden. Als Konstantinos Kardamakis den Mönchsnamen Arsenios annahm, war das ein Zeichen. Von Arsenios von Kappadokien erzählt man sich, dass er auch für Muslime Wunder gewirkt habe und seine Liebe nicht nur für Christen aufsparte. Der junge Mönch wurde sehr früh nach Deutschland, Frankreich und dann nach Österreich geschickt, eingebettet in andere Kulturen. Auch er ein Wanderer zwischen Kulturen, zwischen Ost und West.
Dasselbe gilt auch für den wohl berühmtesten Kreter, Dominikos Theotokopoulos, genannt El Greco. Er verließ Kreta als Meister der Ikonenmalerei. Ikonen sind Fenster zur Transzendenz, und das Malen von Ikonen ist ein spiritueller Akt. Die Ikone soll zur Begegnung mit Gott führen, und daher muss auch das Malen schon aus dieser Begegnung heraus geschehen. „Er war ein Lichtsucher“, sagt Metropolit Arsenios. Für orthodoxe Mönche selbstverständlich, dass hier das sogenannte „Taborlicht“ ins Gespräch kommt. Das ungeschaffene Licht, aktiston fos, dessen Mönche manchmal einsichtig werden, und das bisweilen sogar andere an ihnen sehen können.
Auch Nikos Kazantzakis ist so ein Suchender zweier Welten, und nicht der Atheist, als der er meist beschrieben wird. Der „Weg empor“ war sein zentrales Lebensthema. Ein Reisender zwischen Ideen und Ideologien, ein Odysseus des Denkens, wie er im Buch beschrieben wird. Auf seinem Grab steht: „Ich hoffe nichts, ich fürchte nichts, ich bin frei.“ Und Metropolit Arsenios interpretiert: „Wer keine Angst hat, liebt. Und wer liebt, hat Gott.“
Und gefragt nach dem Unterschied zwischen Ost und West, antwortet er ohne nachzudenken: „Im Westen versteht man sich selbst gerne als Zentrum des Universums. Im Osten hingegen sieht man zuerst das Universum – und erst dann sich selbst als Teil darin.“ Prägnanter könnte man ganzheitliches Denken, nach dem der Westen bisher vergeblich sucht, nicht beschreiben. Da bekommt „Umkehr“ (der Perspektive) eine ganz konkrete Bedeutung.
Toledo, El Greco, Rilke und Kazantzakis
Rilke sah in Toledo eine „Stadt des Himmels und der Erden“. Und man könnte El Greco als den Maler des Himmels und der Erden bezeichnen. Man sagte von ihm, er mache in seinen Bildern Unsichtbares sichtbar. Seine Engel verbinden Unteres mit Oberem, Irdisches mit Überirdischem, Sichtbares mit Unsichtbarem. Sie sind, wie es Rilke in seinen Duineser Elegien ausdrückt, „in beiden Bereichen“ zuhause. Die Dynamik gibt die Richtung an; „purer Aufstieg“. „Das ist Physik des Himmels.“ Kazantzakis würde sagen: der Weg empor.
El Greco ist über Italien nach Toledo gekommen, studierte in Venedig bei Tizian und Tintoretto. In Rom war er von Michelangelo fasziniert. In Toledo entwickelte er seinen eigenen Stil. Seine immer radikaler werdende Sicht wurde nicht verstanden und faszinierte trotzdem. Das Sichtbare interessierte ihn nicht, er machte Unsichtbares sichtbar.
Vierzehn Jahre nach Rilke kam Kazantzakis nach Toledo und vertieft sich in das Werk El Grecos. Begeistert schreibt er: „Heute habe ich meine Seele gefühlt wie niemals zuvor.“ Er beschreibt dieses Werk als Kampf. El Greco habe „den Pinsel genommen wie ein Schwert“. Wie ein Alchemist verstehe er es, den Körpern Körperlosigkeit zu verleihen und Seelisches sichtbar zu machen.
An all dem wird sichtbar, dass Europa kein Nebeneinander von Nationalstaaten ist, sondern ein komplexes Geflecht von Beziehungen und Bezügen. Es zeigt sich auch die innere Beziehung von Kunst und Religion sowie die Sehnsucht nach Mystik und Spiritualität. Weder Rilke noch Kazantzakis waren im kirchlichen Sinne gläubig, und doch zeichnet beide ein intensives Suchen, ein kämpferisches Bemühen um eine Umwandlung, Transformation des Weltlichen in einen geistigen Zusammenhang aus. Ein Ringen um die Seele und um Gott.
Damit kehrt das Buch wieder zum Metropoliten zurück: Denn der meint: „Das mönchische Leben ist schön und spannend, denn man ist ständig im Dialog mit dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren. Und mit sich selbst, denn man hat gelernt, die Bewegungen der Seele zu beobachten.“
Christian Rathner
Der Brunnen von Epanosifi
Wege zwischen Ost und West
Verlag Styria premium 2015, 192 Seiten, Hardcover mit SU
ISBN: 978-3-222-13469-2
EUR 19,99