Die Europäische Kultur wird derzeit extrem hochgehalten und verteidigt. So hoch, dass man gar nicht mehr fragen muss, was das denn nun ist.
Ginge es ernsthaft um die europäische Kultur, wäre erstens nach ihren Wurzeln zu fragen: die sind germanisch-keltisch, christlich-jüdisch, griechisch-römisch und arabisch-griechisch. Litte unser Geschichtsverständnis nicht unter multiplen Verdrängungen, wäre sofort klar, dass Wissenschaft, Medizin, Zahlen, Mathematik, Medizin und nicht zuletzt Philosophie aus Arabien über Griechenland nach Europa kamen, als hier von Kultur noch nicht so viel die Rede war. Wir würden von Ureinwohnern sprechen, ginge es um Australien oder Afrika. Die Wissenschaftssprache war in Europa zunächst Arabisch, erst später Latein.
Ja, und dann haben wir die Aufklärung, auf die wir so unendlich stolz sind. Seitdem gibt es keinen Aberglauben mehr, nur Wissenschaftsgläubige. Das Ideal – allerdings nur von Immanuel Kant – war der mündige Bürger. Seither ward er nicht mehr gesehen. Beinahe wäre man versucht zu behaupten, dass der Islamische Staat gerade eben seine Aufklärung durchläuft, sind doch durch diese mehr Köpfe – maschinell, durch die Guillotine – gerollt, als der IS in Handarbeit zustande bringt.
Zweitens wäre zu fragen, wie es heute um diese europäische Kultur bestellt ist?
Menschenrechte: In der Hitliste der menschenrechtsverletzenden Staaten finden sich auch die USA und europäische Länder. Wenn man sich Bilder der Flüchtlingslager ansieht, vergisst man auch leicht die Menschenrechte. Über die Rechtsparteien breiten wir mal Schweigen.
Freiheit: Wie viele Grenzen setzt da die Bürokratie? Oder der freie Markt? Gut, wir werden nicht gezwungen, am Konsum zu ersticken, es wird uns nur nahegelegt. Die Wissenschaft ist frei? Ohne Drittmittel kaum mehr möglich. Es wird nur beforscht, was Geld bringt, und das nicht nur in der Medizin. Gut, es gibt Grundlagenforschung, z.B. in der Physik, Biologie oder Medizin. Aber da müssen Sensationen verkauft werden (das „Gottesteilchen“ – auch wenn das weder mit Gott zu tun hat, noch wirklich ein „Teilchen“ ist. Oder „Chaostheorie“, auch wenn die gar nichts mit Chaos zu tun hat. Oder wir haben das menschliche Genom entschlüsselt, auch wenn das erstmal gar nichts bedeutet. In der Krebsforschung eilen wir von einer Sensationsmeldung zur nächsten, auch wenn sich tatsächlich kaum etwas tut, weil ohnehin nur in eine Richtung geforscht wird).
Gleichheit: Der wohl am meisten mit Füßen getretene europäische Wert. Wir sind natürlich alle gleich, bloß Kinder aus verschiedenen sozialen Schichten nicht, Menschen mit verschieden dicker Brieftasche nicht (etwa im Gesundheitssystem; dass die Privatversicherten dafür öfter ohne Grund operiert werden, ist nur ein geringer Trost). Auf der einen Seite die stark wachsende Gruppe der „working poor“, die hart arbeiten, aber nicht davon leben können, auf der anderen Seite die Herren an den Wall Streets dieser Welt, die Millionen durch Zocken „verdienen“, und selbst das machen eigentlich die Computersysteme. Dafür haben wir als Beruhigungsmittel die Quotenregelung geschaffen. Mehr Frauen in die Chefsessel und Vorstandsetagen – aber nicht um dort weibliche Qualitäten einzuführen, was bitter notwendig wäre bei dem pubertären System, sondern damit sie das männliche Unvermögen nachäffen.
Eine Erfolgsgeschichte ist die Genderforschung, zunächst in der Grammatik. Gendergerecht muss dort alles dem Erdboden gleichgemacht werden. Das phallische Binnen-I macht uns endlich zu Zwitterwesen. An den Unis gibt’s schon das ProfessX. Und wenn wir uns Penis und Brüste amputieren (nicht nur wegen Krebsgefahr), dann sehen wir dem auch äußerlich ähnlich. Fortpflanzung wäre zu viel Ungleichheit. In vitro veritas! Wenn dann Einheitsmenschen Einheitsmenschen im Gläschen züchten, dann ist die letzte Gleichheit erreicht.
Brüderlichkeit: (Da fehlt anscheinend immer noch die Schwesterlichkeit). Wir sind heute sowas von brüderlich, wenn auch nur mit uns selbst. Die Ich-AG ist die Spitze unserer Zivilisation. Einer für alle war einmal, jetzt heißt es jeder gegen jeden. Wenn jeder für sich arbeitet, dann geht’s allen gut. War ja in der Steinzeit auch schon so, haben wir nur zwischenzeitlich vergessen. Gilt auch nur für den eigenen Stamm, Überfremdung können wir doch nicht zulassen. Brüderlichkeit als Bonsai-Ausgabe der Menschlichkeit. Es ist immer wieder erstaunlich, zu welcher Einfalt ein so komplexes Organ wie das menschliche Gehirn fähig ist.
Apropo: Nicht zu vergessen das „Christliche Europa“. Die hier am lautesten schreien, sind am weitesten davon entfernt. Statt Nächstenliebe nur mehr den Allernächsten lieben. Statt Caritas Besitzgier, auch in Form des „im Besitz der Wahrheit“ sein. Wir haben die „Wahrheit“, alle anderen haben die Lüge, und die muss bekämpft werden. Frieden muss erkämpft werden, auch mit verbalen Bomben. Vom „christlichen Europa“ reden, während nur eine kleine Minderheit wirklich christlich denkt und handelt. Ein christliches Europa wäre in Wahrheit ein entvölkertes Europa.
Wirklich europäisch ist die Naturwissenschaft, wenn auch mit arabischen Wurzeln. Und das ist tatsächlich eine Erfolgsgeschichte. Alle Errungenschaften der modernen Zivilisation gehen darauf zurück. Sie hat nur eine Nebenwirkung: In der Naturwissenschaft kommt der Mensch nicht vor. Ist auch nicht notwendig, Naturwissenschaft ist eine Methode, die sich mit Materie in Raum und Zeit befasst. Und das ist gut so. Allerdings hat sie verheerende Nebenwirkungen, wenn sie zur Ideologie wird. Dann wird Wirklichkeit mit dem gleichgesetzt, was mit dieser Methode untersucht werden kann. Und da der Mensch in der Naturwissenschaft nicht vorkommt, wird diese Ideologie dann eben auch unmenschlich. Die anderen Wissenschaften werden zu Orchideenfächern degradiert, damit leben wir so, als gäbe es Psychologie, Philosophie oder Theologie nicht. „Wir leben so, als wäre das Unbewusste nie entdeckt worden“, bemängelte schon Erwin Ringel. Und Ludwig Wittgenstein sagte: „Wir fühlen, dass selbst wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind.“ Die Erfolgsgeschichte der Naturwissenschaft hat also auch ihre Schattenseite. Wir vergessen zunehmend das eigentlich Menschliche.
Worauf wir wirklich stolz sein können, ist die damit verbundene Technologie. Wer könnte oder wollte heute ohne Auto oder Mobiltelefon leben? Der Westen hat seine Technologie in alle Welt exportiert, andere haben sie imitiert. Aber ob wir darauf wirklich so stolz sein können? Wir können auf der Straße mit China telefonieren, aber der Nachbar, der in seiner Wohnung stirbt, wird wochenlang nicht entdeckt. Wir können in kürzester Zeit an jeden Ort der Welt gelangen, aber im Denken sind wir so unbeweglich, dass wir vor anderem Denken Angst haben. Wir können das menschliche Genom buchstabieren, aber dem eigenen Unterbewussten sind wir hilflos ausgeliefert, weil wir noch nicht mal begriffen haben, dass es das gibt. Wir sind stolz auf unsere Heimat, begreifen aber nicht, dass wir auch in eine Kultur, in ein Weltbild hineingeboren wurden, und dass es auch andere Kulturen und andere Weltbilder gibt, die anders, aber genauso berechtigt sind. Wir reden von europäischen Werten, aber lassen Menschen im Mittelmeer ersaufen und auf der Balkanroute krepieren.
Wir haben eine Hochtechnologie, aber von Hochkultur sind wir meilenweit entfernt.