Mit dem begrifflichen Denken, dem Beharren auf Fakten und dem wissenschaftlichen Analysieren wird etwas Wesentliches unterschlagen: die Zeit. Dem fragmentierenden Denken geht das Fließen der Zeit verloren.
Wir können in Bildern oder in Begriffen denken, mythisch oder philosophisch, symbolisch oder begrifflich. Im Mythos ist der Mensch Teil der Natur und fühlt sich wie vom Strudel der Zeit mitgerissen. Mit dem Erwachen der Philosophie nimmt er sich als Subjekt aus der Natur heraus, stellt sich dem Strudel entgegen. Es ist wie ein Anhalten der Zeit. Heraklit konnte noch sagen: Panta rhei, alles fließt. Niemand steigt zweimal in denselben Fluss. Das Wasser ist im nächsten Augenblick schon ein anderes, und auch ich bin nicht mehr derselbe. Es ist noch nichts „festgestellt“.
In dem Moment, wo wir damit beginnen, uns selbst als Subjekt aus der Natur herauszunehmen, im Außen zu analysieren, beginnen wir festzustellen. Was wir als Fakten festhalten, ist festgestellt, ist Momentaufnahme. Der Film des Lebens wird angehalten und in Standbilder aufgelöst. Das Fließen der Zeit, der Wandel, das Leben gehen verloren. Was wir exakt feststellen, ist aus dem Kontext herausgelöst und in seiner Nicht-Zeitlichkeit im nächsten Augenblick schon wieder bedeutungslos.
Dazu kommt, dass Begriffe eindeutig sein sollten (zumindest in Annäherung), während Bilder und Symbole immer mehrdeutig waren. Die Wissenschaft kann mit Mehrdeutigkeit nicht umgehen und sie daher auch nicht zulassen. Damit geht das Leben verloren, das immer mehrdeutig und multidimensional ist.
Weiters sind Begriffe allgemein(gültig). In der Natur und im Leben ist aber alles einmalig. Es gibt keine zwei gleichen Menschen, auch Zwillinge sind nicht gleich. Es gibt nicht einmal zwei gleiche Schneeflocken. Es ist nicht so, dass wir den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen, sondern umgekehrt sehen wir den einzelnen Baum nicht, weil wir den Begriff des Waldes gebildet haben. Auch wenn wir vom Allgemeinen zum Besonderen schreiten, und Nadel- und Laubbäume, Fichten und Tannen, Buchen und Ahorn unterscheiden – wir kommen wissenschaftlich nie zum einzelnen Baum. Den können wir sehen, zeigen, malen, fotografieren, aber sobald wir beginnen, ihn detailliert zu beschreiben, ist er als Phänomen nicht mehr im Blick. Und die Zeit, seine ganze Entwicklung, kommt weder im Sehen, noch im Beschreiben vor. Nur das Symbol verdichtet Phänomen, Zeit und Dimensionen.
„Zeit“ in der Wissenschaft bedeutet Berechnen von Zeitpunkten. Die Zeit geht sozusagen im Raum auf und ihr Charakteristikum, das Fließen, geht verloren. Das wird besonders deutlich in der Elementarteilchenphysik: Wenn man ein Teilchen an einem Ort A misst, und dann an einem Ort B, dann ist es unzulässig zu sagen, es hätte sich von A nach B bewegt. Es geht nicht nur die Zeit, sondern auch die Identität verloren. Da es außerdem immer nur um Zeitpunkte geht, kann die Physik den „Zeitpfeil“, das Fließen der Zeit in eine Richtung, gar nicht erklären.
Zeit ist kein naturwissenschaftlicher, sondern ein psychologischer „Begriff“. Zeit kann man nicht beschreiben, sondern nur erleben. Psychologie ist nicht Naturwissenschaft, auch wenn sie das oft vorzugeben versucht hat. Zeit ist eben nicht objektiv. Deshalb zeigt eine Uhr Zeitpunkte, aber nicht Zeit. Deshalb können Afrikaner zu Europäern sagen: Ihr habt die Uhr, wir haben die Zeit. Von zwei Menschen, die „objektiv“ (nach der Uhr) eine Stunde erleben, fühlt der eine das als lange Zeit, der andere als rasend kurz, für einen dritten wird eine Sekunde innerhalb dieser Stunde zur Ewigkeit.
Auch der „Zeitpfeil“, das „Vergehen“ der Zeit, die von der Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft „fließt“, ist eine wissenschaftliche Konstruktion. Wer eine Psychotherapie durchmacht oder sich selbst analytisch betrachtet, der spürt Vergangenem und Zukünftigem in der Gegenwart nach. Erlebt die Vergangenheit in der Gegenwart, die Forderungen der (vielleicht schon längst verstorbenen) Eltern, und wie die Wunden der Vergangenheit auch noch die Zukunft bestimmen. Der erlebt, wie man Vergangenes wiedererleben und sogar verändern kann. Wie durch das Verändern des Vergangenen die Zukunft eine andere wird.
Es ist nicht verwunderlich, dass mit einem pseudo-naturwissenschaftlichen Weltbild auch das Verdrängen der Psychologie verbunden ist. Psychologie ist als Wissenschaft des Lebendigen eine Gratwanderung zwischen Begriffs- und Symbolsprache. Es gibt selbstverständlich Begriffs- und Theoriebildung, aber Inhalt sind (auch) Bilder, Symbole, Mythen, Träume. Das Beschreiben muss das Grenzenlose im Begrenzten, das Mehrdimensionale und Mehrdeutige im Bild, im Symbol bestehen lassen.
Dazu wäre anzumerken, dass wir vieles aus der Psychologie in ihrer Vor-Geschichte finden: über Augustinus und Ignatius von Loyola bis zurück zu Heraklit. Aber gleichzeitig mit der Etablierung der Psychologie und Psychoanalyse kommt es zu einer signifikanten Seelenvergessenheit. Das allgemeine Weltbild lehnt sich an die Physik an – noch dazu an die Physik des ausgehenden 19. Jahrhunderts, und bleibt dort stecken – was psychologisch einem Rückfall aus der Beziehung des Ich-Du in die des Ich-Es entspricht, wodurch auch das Ich verlorengeht.
Während der Naturwissenschaftler sozusagen am Flussufer steht und die Tropfen zählt, begibt sich der Psychologe ins Wasser und versucht, die Information der Tropfen wahrzunehmen, die diese seit der Quelle aufgenommen und weitertransportiert haben, und die sie weitertreiben Richtung Meer. In dieser Sicht gibt es keinen Standpunkt, nur das Fließen der Zeit. Wer sich diesem Fließen aussetzt, muss seinen Standpunkt aufgeben, und wer auf seinem Standpunkt beharrt, dem bleibt das Leben verborgen.
In gewisser Hinsicht ist das auch ein Zurückgehen hinter die Subjekt-Objekt-Spaltung. Es interessieren nicht so sehr die Elternobjekte, sondern die inneren Eltern, nicht so sehr das objektiv Manifeste, sondern das Verinnerlichte und Verdrängte. Das „Objektive“ dient nur dazu, das Subjekt sichtbar zu machen. Wir müssen wieder werden wie die Kinder, d.h. längst „Vergangenes“ (aber immer auch gegenwärtig Wirkendes) muss wieder aufgenommen, bearbeitet und integriert weitergetragen werden. Erst dadurch ist ein erwachsenes Leben möglich.
Nun ist der Mensch Bürger zweier Welten. Er lebt in der objektiven Realität, gleichzeitig aber auch in diesem Fluss des Lebens, der alles in sich enthält, von der Quelle bis zum Meer. Er muss immer wieder „feststellen“, darf aber nicht verdrängen, dass es hinter diesen Standbildern einen Film gibt. Dass die Standbilder zwar objektiv sind, aber jeder in seinem eigenen Film lebt, der nicht feststehend, sondern immer veränderbar ist. In diesem Film lässt sich sogar die Vergangenheit ändern, zwar nicht die Standbilder der Vergangenheit, aber man kann dem Fließen der Partikel eine andere Richtung geben, die auch immer schon da war, aber nicht konkret werden konnte.
Das ist wie in der Quantenmechanik (die eine neue Logik eröffnen würde): Die Wirklichkeit ist die Überlagerung aller Möglichkeiten. Die Realität entsteht durch Messung, durch Hinschauen, und wird dadurch festgestellt. Durch eine andere Art des Experiments, des Hinschauens, können wir eine andere Möglichkeit realisieren, feststellen. In einer Psychotherapie geschieht nichts Anderes: Durch eine andere Art des Hinschauens auf die Vergangenheit wird eine andere Möglichkeit realisiert und damit die Vergangenheit „verändert“. Auch wenn das Wasser dasselbe ist, kann man den Fluss nachträglich umbetten. Das Fließen der Zeit ist ein anderes geworden. Der Erlebende ebenfalls.