Dem Tabuthema Sterben und Tod widmete sich ein Symposium „Dem Sterben begegnen. Herausforderungen an Medizin und Pflege“, veranstaltet vom Institut für medizinische Anthropologie und Bioethik, IMABE Wien. Schon lange vorher ausgebucht, kamen zwei Drittel der Zuhörer aus dem Pflegebereich, ein Drittel aus der Ärzteschaft. Eine Frage bildete den roten Faden: Wie kann man den Tod, der aus der Gesellschaft hinausgedrängt wurde, wieder in die Gemeinschaft zurückholen?
Es gibt einen gravierenden Wandel in der Einstellung zum Sterben und zum Tod. Darüber referierte Univ.-Prof. Dr. Franz Kolland, Institut für Soziologie, Universität Wien. Bis etwa 1900 war es ein Leben mit dem Tod, der sich in einer sorgenden Gemeinschaft vor dem Hintergrund der Religion abspielte. Danach ging die Orientierung von Religion und Priestern immer mehr auf den Arzt über. Heute ist es auch nicht mehr der Arzt, sondern der Sterbende selber, der selbstbestimmt aus dem Leben gehen soll.
Das ist der Individualisierung geschuldet, auf die das System mit personzentrierter Pflege antworten muss. Wie alles hat auch das seine Schattenseiten, nämlich den Verlust der Zugehörigkeit, die früher Orientierung und Geborgenheit geben konnte. Das fällt heute weg. Die Über-Individualisierung geht Hand in Hand mit einer zunehmenden Vereinsamung. Früher starb man im Kreis der Familie, heute wird das Sterben an Institutionen ausgelagert. Die sorgende Gemeinschaft, in der man früher gelebt hat und auch gestorben ist, muss heute durch eine professionelle pflegende „Gemeinschaft“ ersetzt werden.
Allerdings stand und steht dem die „Gerontophobie“ (©Nikolaus Schneemann) der Ärzte entgegen, die sich rechtzeitig aus dem Staub machen (Johannes Bonelli), wenn der Sterbeprozess einsetzt. Der Sterbende wird irgendwohin abgeschoben, wo sein Sterben weitgehend unsichtbar bleibt. Dazu gehört auch eine Dämonisierung des Alters, das durch ein „positives Denken“ aus dem Horizont der Gesellschaft gedrängt wird. Der Tod kommt in der Gesellschaft nicht mehr vor.
Menschen sind leiblich, damit verletzlich, und daher füreinander verantwortlich – so fasst Prof. Dr. Martin W. Schnell, Philosoph, Direktor des Instituts für Ethik und Kommunikation im Gesundheitswesen, Univ. Witten/Herdecke, die menschliche Situation zusammen. Medizin und Pflege sind am Lebensende eines Patienten mit einer Asymmetrie konfrontiert, nämlich jener von Weiterleben vs. Sterben, der Diversität zwischen dem überlebenden Begleiter des Patienten und dem sterbenden Patienten selbst. Kommunikation braucht eine gemeinsame Bedeutungswelt, die am Lebensende zunehmend schwindet. Diese Asymmetrie stellt eine große Herausforderung für Palliative Care dar. „Man kann sich in den Sterbenden gar nicht hineinversetzen. Das muss man akzeptieren. Das heißt aber nicht, dass man ihn nicht gut begleiten kann“, betont Schnell. Er plädiert für eine möglichst frühe Auseinandersetzung mit Tod und Sterben in der Ausbildung.
Für Ärzte ist nicht der Tod das Thema, sondern das Sterben. Der Arzt kann mit Patienten umgehen, nicht mit Menschen, so Schnell: „Ärzte können Patienten helfen, nicht Menschen.“ Es hängt daher alles daran, sich mit dem eigenen Tod zu beschäftigen, oder sich dem zumindest anzunähern. In der dritten Person stirbt „ jemand“, das macht nicht betroffen. In der zweiten Person ist es ein bestimmter, nahestehender Mensch, in der ersten Person bin ich es selber, meine eigene Endlichkeit.
Interessant in diesem Zusammenhang sind zwei Projekte des Philosophen: „30 junge Menschen sprechen mit Sterbenden und Angehörigen“ und „30 Gedanken zum Tod“ sowie ein Lehrfilm des Interdisziplinären Zentrums für Palliativmedizin am Universitätsklinikum Düsseldorf: „Ich sehe dich“.
Als Onkologe ist das Sterben für Univ.-Prof. Dr. Günther A. Gastl, Universitätsklinik für Innere Medizin V, Innsbruck, etwas „Alltägliches“. Auch für ihn geht es dabei um Existenzielles. „In der modernen Medizin wird das Sterben als Endpunkt von akuten oder chronisch verlaufenden Krankheitsprozessen pathologisiert“, so Gastl. Doch der Tod sei weder ein medizinischer oder pflegerischer Gegenstand, sondern ein menschlicher. Vor allem gibt es Dinge, die sich am Lebensende nicht mehr lohnen, von denen man absehen sollte.
Dafür kommt etwas hinzu, das man die spirituelle Dimension nennen könnte. Mit dem Verschwinden der mittelalterlichen Ars moriendi, der Marginalisierung und Pathologisierung des Sterbens und der Verdrängung des Todes aus der Gesellschaft, ist auch die Spiritualität verschwunden. Dieses Vakuum erfordert die Entwicklung einer zeitgemäßen Ars moriendi. Die Betonung der Individualität steht dem gar nicht so sehr entgegen, auch Spiritualität ist individuell: „In seiner Spiritualität trinkt jeder aus seiner eigenen Quelle.“ (Bernhard von Clairvaux). Professionalität am Lebensende geht gerade nicht von starren Richtlinien aus, sondern muss auf das Individuelle jedes Menschen eingehen.
Der Soziologe und „Querkopf“ Univ.-Prof. DDr. Reimer Gronemeyer, Uni Gießen, wies darauf hin, dass alles seine Schattenseiten hat, auch die Palliativmedizin. In den USA sterben 80 Prozent der Menschen in Hospizeinrichtungen – die alle börsennotiert sind. „Die Ars moriendi wird zu einem industrialisierten Projekt.“ Er sieht auch einen Wandel in der Hospizbewegung: „Aus der weiblich getragenen Hospizbewegung ist ein zutiefst männliches Projekt geworden“, mit der typischen Überregulierung und Professionalisierung.
Gronemeyer wetterte auch gegen die Patientenverfügung, bei der jemand vorgibt zu wissen, wie er zu einem späteren Zeitpunkt entscheiden wird. Der Soziologe bringt es auf die Formel: „Wenn ich dement bin, will ich keine künstliche Ernährung – selbst wenn ich es als Dementer will.“
Auch Hilde Kössler, MMSc, Koordinatorin des Mobilen Palliativteams Baden und Zweite Vizepräsidentin der Österreichischen Palliativgesellschaft, wies darauf hin, dass heute so manches aus der Sicht der noch Lebenden gesehen wird, und nicht aus der Sicht der Betroffenen. So wird landauf, landab bedauert, dass heute überwiegend in Institutionen gestorben wird und nicht zuhause, wie es dem Wunsch der meisten entsprechen würde. Bei Befragungen steht aber dieser Wunsch gar nicht an erster Stelle, sondern viel weiter unten. Viel wichtiger ist es, die Schmerzen in den Griff zu bekommen. Solange das zuhause geht, ist das ok, im Ernstfall fühlen sich die Menschen dann doch in einer Institution sicherer. Dazu kommt auch das nicht zur Last fallen Wollen, das in dieser Frage kaum reflektiert wird. Beim „guten Sterben“ geht es jedenfalls nicht in erster Linie um den Ort, sondern um das Wie.
Es klang wie eine Zusammenfassung des Symposiums, wenn Hilde Kössler forderte: „Das Sterben muss wieder in die Gesellschaft hinein!“
Fotos: © IMABE/Florian Feuchtner