Niels Penke: Jünger und die Folgen, J.B. Metzler Verlag 2018
Ernst Jünger ist ein „umstrittener“ Autor, an den alle politischen Lager und Denkweisen anschließen konnten. Die Zuschreibungen reichen von „schlechtester Schriftsteller von Rang“ über „veredelter Faschist“ bis hin zur „Jahrhundertfigur“. Die meisten dieser Zuschreibungen reagieren auf Momentaufnahmen, auf Standbilder statt auf den ganzen Film. Am einleuchtendsten ist daher auch „das menschgewordene zwanzigste Jahrhundert“ (Paul Virilio). Er lebte nicht nur in diesem Jahrhundert, er repräsentierte es auch in allen seinen Facetten. Sein Werdegang vom Rechts-Revolutionär zum Konservativen, in dem sich durchaus auch Links-Revolutionäre wiederfinden konnten, hat in allen politischen Lagern Ablehnung und Zustimmung erfahren.
Jünger ist vor allem ein Mann der Gegensätze, der – wenn man sein Leben als Ganzes sieht – das Gegenteil nicht ausgeklammert hat. So hat er sich auch am Ende von seiner anfänglichen faschistischen Ära nicht distanziert (wie ihm vorgeworfen wird), sondern diese als Teil seines Lebens umgedeutet und integriert.
Der Krieger
Jüngers Schaffen beginnt mit einer schwer verdaulichen Verherrlichung des Krieges. Doch hat dies einen eher mythischen Charakter. Er beschreibt ihn wie einen Initiationsritus des Erwachsenwerdens, das aber ausbleibt, weil sein Mythos des Helden im Pubertären steckenbleibt. Er nimmt zunächst das Leben als Kampf in den Mythos der Initiation hinein, die er vom Ereignis zur Daseinsweise aufbläht. Es geht gar nicht darum, wofür man kämpft, sondern nur dass und wie man kämpft. So nimmt er den Mythos ins Konkrete und legt eine steile militärische Karriere hin. Er ist ein pubertärer Träumer, der an die Stelle der Erziehung die Selbstbildung setzt, diese Fantasie aber ganz konkret umsetzt.
Als Kind der beginnenden Moderne revoltiert Jünger gegen eben diese, versucht sich in der Fremdenlegion in Afrika, als Gestalt gewordener Bubentraum, heiß, gefährlich „ein nur für Männer geschaffenes Land“. Am Beginn des 1. Weltkrieges meldet er sich freiwillig, befürchtet, dass der Krieg zu schnell zu Ende sein könnte, und er nicht mehr diese Augenblicke erleben dürfe, „die man als die eigentliche Männertaufe bezeichnen kann“. Die nationalistischen Züge sind dabei nur Hintergrund.
Schon hier wird deutlich, wie aktuell Jünger für das beginnende 21. Jahrhundert ist. Wie es dazu kommen kann, dass mit pubertärem Protest rechtsradikale Gesinnung wieder aufleben kann. Im Gewand des politischen Protests wird unreflektiertes Innenleben nach außen projiziert.
Ambivalent gegensätzlich wie die Zeit der Pubertät ist das Erstlingswerk „Im Stahlgewitter“. Eine Verherrlichung des Krieges an sich, in dem sich der Autor zum Helden stilisiert, bis hin zur Frage „Wann hat dieser Scheißkrieg ein Ende?“ Jünger erzählt, mit neutralem Abstand, „wie es war“. „Innere wie äußere Abhärtung, die ihre Vollendung in der großen und ‚männlichen‘ Gleichgültigkeit findet, sind das Ziel.“ Er schafft es nicht bis zum erwachsenen Gleichmut, bleibt in der Gleichgültigkeit stecken. Abstumpfung wird als Abhärtung interpretiert, Empathielosigkeit als „unbeeindruckte Haltung“ und „neutraler Blick“ idealisiert. Er beschreibt entsetzliche Szenen, aber „in solchen Augenblicken triumphiert der menschliche Geist über die gewaltigen Äußerungen der Materie“. Schon hier zeigt sich das philosophische, ja religiöse Moment, das erst viel später zum Tragen kommt.
Der Krieger geht im Kollektiv auf, obwohl er im Grabenkampf auf sich allein gestellt ist. Später wird Jünger den entindividualisierten Arbeiter als Ideal hinstellen, und am Ende wieder das Individuum in den Blick nehmen. Den Krieg beendet Jünger als Verwundeter, er überlebt und wird als Kriegsheld mit den höchsten Auszeichnungen bedacht.
Verarbeitung
Danach studiert er Zoologie und Philosophie, setzt sich mit der Vereinigung von Form und Materie und dem Begriff des Mechanismus auseinander. Sein literarisches Schaffen bleibt der Verarbeitung der Kriegserlebnisse verpflichtet, wird aber immer wieder umgedeutet, z.B. in „Der Kampf als inneres Erlebnis“, in dem er den Krieg zum Selbstzweck erhebt. Das brachte ihm den Vorwurf der „Kriegsverherrlichung“ ein. Jünger wird aber immer mehr zum Beobachter menschlicher Gegebenheiten, der die dunkle Seite nicht verleugnet: „Das wird bleiben, solange Menschen Kriege führen, und Kriege werden geführt, solange noch das tierische Erbe im Blute kreist.“
Hier wird deutlich, dass man Jünger vor allem (kollektiv-)psychologisch sehen muss. Er thematisiert (mit seinem Leben) die Ambivalenz des Lebendigen. Wie im indischen Mythos der Kali ist ihm Zerstörung und Schöpfung eins. Nur ist es bei ihm ein männlicher Mythos, der dem Westen wohl mehr entspricht: „Der Kampf ist nicht nur eine Vernichtung, sondern auch die männliche Form der Zeugung, und so kämpft nicht einmal der umsonst, welcher für Irrtümer ficht.“ Letztlich geht es um einen Reifungsprozess, „Tempestatibus maturesco – Im Stürmen reife ich“ ist sein späteres Exlibris.
„Ich hasse die Demokratie wie die Pest“, so Jüngers Bekenntnis. Wohl weil er darin die Kapitulation des Kämpfens sah. Bevor man sich aber darüber aufregt, möge man daran denken, dass heute rechte Parteien (wieder) an die Macht drängen, und wenn sie demokratisch gewählt in einer Regierung sitzen, dann wird von den Halbrechten oft argumentiert, dass Demonstrationen gegen diese Regierungen „undemokratisch“ und links-linker Terror wären. Dann möge man Milde walten lassen und Jünger zugestehen, dass er eine falsch verstandene Demokratie meinte – die aber Realität ist.
Wendung nach innen
Nach dem Krieg verkehrt Jünger in rechtsradikalen Kreisen und sucht genauso den Schulterschluss mit linken Revolutionären bis hin zu den „Salon-Kommunisten“. Es geht ihm unter dem Thema des Krieges und dann der Revolution nicht um konkrete Ideologien, sondern um die große Veränderung. Jünger ist übrigens zu diesem Zeitpunkt vom Kriegshelden zum Schreibtischtäter mutiert, der sich gar nicht um eine Umsetzung seiner Ideen der Revolution bemüht. Vielmehr ist es eine Wende nach innen: „Dies hat alles seinen Sinn, einen tiefen Sinn, der sich auch in mir erfüllt.“ Der Kriegsschauplatz wird zunehmend zum inneren Schauplatz.
Jünger distanziert sich vom Nationalsozialismus, der aber nie seinen Intentionen entsprochen hat. Dass er sich nie von seinen frühen Schriften distanziert hat, sie nur umgedeutet hätte, wird ihm vorgeworfen. Aber er kann sich auch gar nicht von seinem Leben distanzieren, das er als Prozess auffasst. Vergangenheitsbewältigung heißt bei ihm nicht Distanzierung, die nichts ungeschehen machen kann, sondern Integration und Umwandlung. Er ist damit vielleicht realistischer als viele seiner Kritiker.
In einer neuen Wendung bezeichnet er das frühere Schaffen als sein „Altes Testament“. Inzwischen wandelt sich sein früherer unerbittlich kalte Blick der Zerstörung in eine entspannte, bisweilen heitere Vita contemplativa in den späteren Werken. Seine Versuche, ein neues Leben zu beschreiben, münden mehrmals am Ende in einer Flucht ins Unbestimmte. Er beginnt allmählich, sein Scheitern anzunehmen. Die Frage, wie Neues entsteht, ist noch nicht beantwortbar. „Alle Menschen und Dinge dieser Zeit drängen einem magischen Nullpunkt zu. Ihn passieren heißt, der Flamme eines neuen Lebens ausgeliefert zu sein; ihn passiert zu haben, ein Teil der Flamme zu sein.“
Der Krieg wird ihm zum Motor gesellschaftlicher Transformation. Der „Geist des Fortschritts“ und der „Genius des Krieges“ sind ihm zwei Seiten eines Ereignisses. Sein Kampf gilt noch dem für ihn fragwürdigen Begriff der individuellen Freiheit. Es schwebt ihm ein Transformationsprozess im Zeichen des Arbeiters als kollektiver Typus vor. Jeder ist ersetzbar, es geht nur um die Funktionalität. Das klingt weniger absurd, wenn man Jünger als Diagnostiker sieht. Die Realität gab und gibt ihm Recht.
Ein endgültiger innerer Wandel vollzieht sich in der Mitte der 1930er Jahre. Jünger zieht sich zurück an einen naturbelassenen Rand der zivilisierten Welt in Norwegen. In dem Roman „Auf den Marmorklippen“ entwirft er einen ästhetischen Nicht-Faschismus, der sich gegen die Barbarei stellt, die zufällig als faschistisch auftritt. Am Ende steht – wie noch öfter – keine Lösung, sondern eine Flucht als Eingeständnis eines Scheiterns.
Menschwerdung
Im Zweiten Weltkrieg ist Jünger Teil der High Society in der besetzten Stadt Paris, und er kann hier Menschenleben retten, indem er sie vor geplanten Razzien warnt. Dem Massenmord, von dem er Zeuge wird, steht er beschämt und hilflos gegenüber. Innerlich vollzieht sich eine Wendung zum Religiösen. Waren seine frühen Schriften geprägt von der Härte des Gesetzes, das er Krieg nannten, vollzieht sich in den aktuellen Tagebüchern mit einer Hinwendung zur Milde und Empathie so etwas wie die Menschwerdung des Autors. Dies führt nicht zu einer Ablehnung der Vergangenheit, sondern zur Einsicht, dass Schöpfung nur über Zerstörung möglich ist. Psychologisch geht es darum, das Vergangene, auch wenn es noch so schrecklich ist, nicht zu verleugnen, sondern zu bewahren und zu integrieren.
Jünger wird versöhnlich, glaubt an die Notwendigkeit einer neuen „Freundschaft“ zwischen den Kontrahenten Frankreich und Deutschland. Er selbst nimmt sich wie üblich nicht aus dem Geschehen heraus, steht hinter seinem Opus als Ganzem, überhöht sich als Repräsentant einer Elite von Meistern, die den Frieden aus dem Chaos schöpfen können. Er wird quasi vom Kriegshelden zum Stifter einer neuen Theologie, die den neuen Menschen hervorbringt, der zur Versöhnung fähig ist. Dazu müsse man sich von jeglicher nationaler Überheblichkeit freimachen.
Utopien
Das Spätwerk ist geprägt von Utopien. „Heliopolis.Rückblick auf eine Stadt“ endet wieder mit einer Flucht, von der nicht mehr berichtet wird. In „Der Waldgang“ thematisiert er die Furcht vor Abhängigkeiten und vor dem Nihilismus, vor dem „Kult der Gemeinschaft“, der den Einzelnen einschränkt. Jünger beginnt aber auch, über eine Lösung nachzudenken, entwickelt seine Zwei-Reiche-Lehre, den Gegensatz zwischen der sinn- und heillosen Wüste der diesseitigen Welt und einem überzeitlichen, ewigen Jenseits. Idealbild ist der Einzelne, der „Priester aus Eigenem“. In einem Akt des (nun) inneren Widerstandes bricht er sich Bahn im Ausweglosen.
In „Besuch auf Godenholm“, in einer Zeit nach dem Zusammenbruch in einer abgeschiedenen Insel im Norden, machen Besucher eine Selbsterfahrung, die sie kuriert. Jünger experimentiert mit Drogen; Kampf, Eros und Drogenrausch werden ihm Zugangsformen zu anderen Wahrnehmungen, später zu Transzendenzerfahrungen.
Der Roman „Eumeswil“ stellt sozusagen Jüngers „Neues Testament“ dar. Es geht um das Ende der Geschichte und der Zivilisation, die zur „großen Deponie“ geworden und der Schutt nicht mehr bewältigbar ist. Die bisherigen Entwürfe endeten folgerichtig immer in einer Flucht, diesmal ist es ein Aufbruch, der als „große Jagd“ in einen verheißungsvoll-phantastischen Wald führt, von dem nicht mehr erzählt wird. Aber es ist kein „weg von“ mehr, sondern ein „hin zu“.
Zwei Jahre vor seinem Tod konvertiert Jünger zum Katholizismus. Als er stirbt, erscheint es, als würde „das Jahrhundert zu Grabe getragen“ (Durs Grünbein). Was mit einem „Stahlgewitter“ begann, endet nun in einem Mediengewitter. Die Nachrufe übertönen alles andere.
Resümee
Man wird Jünger nicht gerecht, wenn man einzelne seiner Werke rezipiert. Er ist nur von seinem Gesamtwerk her zu verstehen, in dem er selbst als Protagonist eine Wandlung vom Krieger zum „Heiler“ vollzieht, wobei sich die letzte Stufe im „Wald“ verliert.
Seine Wandlungen vom Rechtsradikalen zum Verinnerlichten, vom Pubertierenden zum reifen, abgeklärten Erwachsenen, vom Stürmer zum inneren Rückzug, vom Aufgehen im Kollektiv zur Selbsterfahrung des Individuums, vom Mythos des Helden zum Mythos des Heilsbringers können nur im Gesamten beurteilt werden.
Zustimmung und Kritiken aus allen politischen Lagern betreffen meist einzelne Stationen seines Lebens, gehen auch insofern ins Leere, weil es bei Jünger mehr um den Mythos als um die konkrete Wirklichkeit geht, auch wenn er dieses minutiös und seismografisch beschreibt.
Als Verkörperung des 20. Jahrhunderts ist Jünger im 21. Jahrhundert aktueller denn je. An ihm lässt sich nachvollziehen, wie verschiedenste innere Strömungen (pubertäre Heldenfantasien, Lebenskampf, Protest, Nihilismus, usw.) von rechtspopulistischen Parteien aufgegriffen, nivelliert und manipuliert werden, obwohl derartig platte Partei-Ideologie nie wirklich gemeint ist.
„Ihn zu verstehen wird nötig sein, wenn man die Geistesgeschichte Deutschlands in unseren Zeiten verstehen will.“ (Erich Fried 1965).