Theodizee, Holocaust und Verantwortung

Dieser Tage ist Johann Baptist Metz 90 Jahre alt geworden. Abgesehen davon, dass er ein charismatischer Lehrer war, hat er eine der brennendsten Fragen seiner – und unserer -Zeit gestellt: die alte Frage, wie Gott das zulassen kann, oder in der heutigen Form: Wie ist Theologie, wie ist Religion nach Auschwitz überhaupt noch denkbar?

Die bürgerliche Religion, in die sich die meisten Religiösen wieder zurückgezogen haben, während die anderen sich überhaupt abwandten, ist nicht mehr möglich. Der gute Gott, der alles lenkt und beherrscht, ist zur Blasphemie geworden. Das kann man einem Gott nicht (mehr) unterstellen. Die süßliche Religion ist nicht mehr glaubwürdig, sie ist sogar abschreckend und ein wesentlicher Grund dafür, dass sich viele abwenden und Atheisten oder Agnostiker werden.
Ebenso werden die mit Klauen und Zähnen verteidigten konfessionellen Grenzen hinfällig und einfach nur lächerlich. Alle Streitpunkte verblassen, wenn es um das Wesentliche geht. Ökumene kann doch nicht darin bestehen, die Vielfalt zu nivellieren, sondern nur darin, sich endlich auf das Wesentliche zu konzentrieren.

Wie konnte Gott den Holocaust zulassen?

Es ist zuallererst die Frage, wie wir uns „Gott“ vorstellen. Im Alten Testament steht noch: Du sollst dir kein Bild machen! Und doch: Auf dem Weg durch die Wüste (des Lebens) haben die Israeliten (wir) sich ein goldenes Kalb gegossen, das sie anbeteten, weil sie vom Gott des Mose keine Vorstellung hatten und haben konnten. In vielen Kirchen finden wir noch den alten Mann mit weißem Bart. Eigentlich eine Häresie.
Religiöse Schriften – für Christen das Alte und Neue Testament – handeln nicht von Gott, sondern vom Menschen und seiner Beziehung zum Unendlichen. Das oft in gleichnishafter und symbolischer Sprache, die wir heute trotz Tiefenpsychologie nicht mehr verstehen. So lesen wir die Schriften als Schriften über Gott. Damit brauchen wir uns nicht um die menschlichen Tragödien zu kümmern. Es ist eine einzige Projektion. Nicht die Schriften, sondern unsere Lesart. So gesehen ist bürgerliche Religion, ist die übliche Lesart der Bibel verantwortungslos.
In dieser Lesart verdrängen Christen am liebsten das ganze Alte Testament, weil es ja an manchen Stellen so grausam ist. Dabei ist das bloß Realismus. Es war der Mörder Mose, der die Israeliten aus der inneren Abhängigkeit befreien und die innere Wüste in Beziehung zum Unendlichen bringen wollte. Und dann ein symbolisches Bild, das eigentlich Kern des Christentums sein sollte: Die Israeliten werden als Folge ihres Verhaltens reihenweise von Schlangen gebissen und sterben. Doch Mose findet – mit Hilfe des Unendlichen – auch dafür eine Lösung: Er machte eine Schlange aus Kupfer und hängte sie an einer Fahnenstange auf. Jeder, der von einer Schlange gebissen wurde, blieb am Leben, wenn er zu der Schlange aufschaute (Num. 21,4-9).
Die Schlange als Symbol des Bösen ist auch das Symbol des Heils. Die erhöhte Schlange ist auch der erhöhte Heiland. Goethe drückte das im Faust so aus: „Ich bin der Geist, der stets verneint, ein Teil von jener Kraft, der stets das Böse will und stets das Gute schafft.“ Um heil (ganz) zu werden, reicht eine süßliche Religion nicht aus. Das Negative will gesehen und umgewandelt werden. Es abzuspalten – wie es die Kirche getan hat und tut – ist der falsche Weg. Ins Unbewusste verdrängt, wächst seine Kraft und bricht irgendwann hervor. Schlimmer als je zuvor.
Nach der schier unfassbaren Verhöhnung des Humanen durch Auschwitz ist eine Verherrlichung Gottes, der „alles so herrlich regieret“, nicht mehr möglich. J. B. Metz: „Wir Christen kommen niemals mehr hinter Auschwitz zurück; über Auschwitz hinaus aber kommen wir, genau besehen, nicht mehr allein, sondern nur noch mit den Opfern von Auschwitz.“ Wir können von Gott nicht reden, ohne das größte Übel mit hinein zu nehmen – auch wenn das völlig irrational ist. Im Absoluten ist Rationales und Irrationales eins, weil es weder das eine, noch das andere ist, sondern ganz was anderes. Aber darüber können wir nichts sagen.
In der Bildersprache religiöser Schriften: Der Gott des Mose ist unvorstellbar. Selbst in der Beziehung („Offenbarung“) sagt er nichts als „Ich bin“. Alles andere wäre bereits menschliche Vorstellung. Als Wesen der Endlichkeit brauchen wir allerdings unsere goldenen Kälber, müssen allerdings aufpassen, dass wir nicht von den Schlangen gebissen werden, die die Entwicklung des Menschen in Gang gesetzt haben. Teilhard de Chardin würde, wie Sri Aurobindo von Involution und Evolution sprechen.
Die europäische Kulturgeschichte beginnt schon in der Antike mit der Vorstellung vom Sein (Parmenides) und Werden (Heraklit). Diese beiden (statische und dynamische) Weltbilder ziehen sich durch die Geschichte, und das statische Weltbild gewann mit der Naturwissenschaft und dem daraus entstehenden Weltbild der „modernen“ Gesellschaft die Oberhand. Doch sogar die Physik kommt am Ende zu der Ansicht, dass beide Sichten notwendig sind. Teilchen (Statik) und Welle (Dynamik) sind eins (Feld). Wir brauchen die Gegensätze, um die Wirklichkeit komplementär zu beschreiben. Das Aristotelische Entweder-Oder hat nach zweieinhalb Jahrtausenden ausgedient. Sogar die physikalische Welt (die sich als Methode von der geistigen Welt losgesagt hat) ist im Innersten ganz und eins. Es gibt nur das Ganze, es gibt keine Teile, obwohl wir darüber reden müssen.
Schwieriger ist es, wenn es nicht um Sein oder Nicht-Sein geht, sondern um Gut und Böse. Wir müssen annehmen, dass auch dieses Gegensatzpaar komplementär zusammengehört. Dass das Positive nicht denkbar ist ohne das Negative. Das ist genauso unvorstellbar wie Teilchen und Welle als ein Quantenphänomen. Es gibt da nur einen Ausweg: Unser Weltbild ist ein zutiefst statisches, die Dynamik fehlt völlig. In diesem statischen Weltbild ist Komplementarität nicht vorstellbar. Wir müssen also lernen, dynamisch und ganzheitlich zu denken.
Die Quantenphysik ist voll mit völlig verrückten Ideen, die sich dann als richtig erwiesen. Ebenso verrückt erscheint ein Satz von Leibniz: Diese Welt ist die beste aller Welten. Aus der statischen Teilchensicht ist das Unsinn. Aber Leibniz lebte am Beginn der Naturwissenschaft, hat aber das statische Weltbild nicht mitgemacht. Seine Philosophie ist Dynamik. Die Welt ist deshalb die beste aller denkbaren Welten, weil sie entwicklungsfähig ist.
Naturwissenschaft und Religion stehen heute deshalb so unversöhnlich gegenüber, weil auch die Religion ein dynamisches Weltbild vertritt, das vom statischen Weltbild der Gesellschaft nicht mehr verstanden wird. Es geht nicht um Gott oder das Sein, sondern um den Menschen und sein Werden. Vom statischen Denken widerspricht sich die Bibel laufend. Vom dynamischen Denken korrigiert sie sich ständig, weil der Mensch in Evolution ist. Die Bibel ist auch insofern unlogisch (bezogen auf die aristotelische Logik), weil sie die Gegensätze nicht eliminiert, sondern bestehen lässt, weil sie komplementär zusammengehören.
Und wenn eine süßliche Religion nach Auschwitz nicht mehr möglich ist, wenn der Gott, der alles in seiner Güte lenkt und steuert, tot ist (Nietzsche), dann wirft uns das zurück auf das, was Religion wirklich ist: Menschsein als Entwicklung zu sehen, was C.G. Jung als Individuation bezeichnet hat. Diese Entwicklung ist nicht von einem Gott gesteuert, wir sind ja keine Marionetten, sondern sie liegt in unserer eigenen Verantwortung. An Gott zu glauben oder nicht, ist nicht das Entscheidende. Es bleibt dabei ohnehin offen, woran man da glaubt oder nicht glaubt. Es geht einzig und allein darum, die Verantwortung für das eigene Sein und vor allem Werden zu übernehmen.
Um es drastisch zu sagen: Viele, die man als konservative Fundamentalisten bezeichnet, sind diejenigen, die ihr inneres Auschwitz leben. Die glauben, die Wahrheit zu besitzen und alle anderen der Lüge bezichtigen, für die alle anderen Religionen und sogar Konfessionen Teufelswerk sind. Diesen inneren Gesinnungs-Holocaust müssten wir heute überwinden. Verantwortliche Entwicklung schließt das innere und äußere Fremde mit ein.

Die Illusion der Gewissheit

U1_978-3-498-03038-4.indd Das Gütesiegel „wissenschaftlich erwiesen“ oder „Wissenschaftler haben festgestellt“ erweckt den Glauben an die Allmacht der Wissenschaft. Die Schriftstellerin Siri Hustvedt hinterfragt dieses Gütesiegel und diesen Glauben und deckt unreflektierte Voraussetzungen auf. Als Frau ist sie den männlichen Strukturen des Wissenschaftsbetriebs anscheinend weniger ausgeliefert.

Um gleich mit einem Beispiel zu beginnen: Der Begriff „bio-psycho-sozial“ stellt in der Medizin einen großen Fortschritt dar. Das bisher ausschließlich Biologische wird ergänzt durch das Psychische und Soziale. Aber wenn man genauer hinsieht, dann trennt dieser Begriff genau das, was er vereinen will, auch wenn er ohne die Bindestriche geschrieben wird. Der Begriff wird dadurch für die Autorin kontraproduktiv. Er vernachlässigt das Weltbild und die Entwicklungsgeschichte. „Das Modell funktioniert im Grunde statisch.“ Und das Grundthema des Buches umschreibend: „Es ist immer wieder spannend zu sehen, in welchem Maß theoretische Modelle das Denken nicht nur erweitern, sondern auch sehr einschränken können.“ (Das erinnert an Einstein, der sagte dass wir nicht aus dem, was wir sehen, eine Theorie bilden, sondern die Theorie bestimmt, was wir sehen). Jedenfalls sehen wir oft nur das, was wir erwarten, und das gilt auch für Wissenschaftler.

Das Thema (vermeintliche) Gewissheit ist auch eine Auseinandersetzung mit René Descartes, der mit seiner Unterscheidung von res extensa und res cogitans getrennt hat, was zusammengehört, oder was nie getrennt war. Das zieht sich als roter Faden durch das Buch. Wissenschaft muss unterscheiden, aber wenn sie vergisst, dass sie von einem Ganzen ausgegangen ist, dann kommt es zu einer versteckten Gedankenakrobatik, um zu erklären, wie das Getrennte zusammenwirkt. Und das ist letztlich unmöglich. Sobald der Geist vom Körper, das Bewusstsein vom Gehirn getrennt ist, entstehen erst die unlösbaren Probleme, die wir kennen oder unterschlagen. Um den Dualismus zu verschleiern, kippt man in einen Pseudomonismus und der Geist wird – wie Descartes res extensa – dann auch zur Maschine.

Dann steht z.B. der Psychotherapie die Kognitive Verhaltenstherapie (KVT) entgegen. Diese „übernimmt den kartesianischen Dualismus, aber mit seinen Rätseln wollen sich seine Vertreter nicht befassen“. Es gibt immer schon unreflektierte Voraussetzungen in den Wissenschaften. Es gibt damit schon einhellig vorausgesetzte Antworten, bevor man anfängt zu forschen. So ist z.B. von angeborenen und erworbenen Eigenschaften die Rede, eine Unterscheidung, die aber sofort fragwürdig wird, wenn man nach der Grenze zwischen beiden fragt. Was genetisch vererbt ist, hängt außerdem davon ab, welche Vorstellung man von einem Gen hat. Im naturwissenschaftlichen Kontext hat es so etwas wie ein isoliertes Ding zu sein – was es aber nicht ist.

Breiten Raum nimmt die Metapher vom Hirn als Datenverarbeitungsmaschine ein, die z.B. den Konzepten der Künstlichen Intelligenz zugrunde liegt. Das Hirn wird auf die Verarbeitung von Information reduziert, womit ein Großteil der Komplexität der Wirklichkeit verloren geht und nur die abstrakten Strukturen der Logik übrigbleiben. Das Kreative wird unterschlagen, das Berechnende bleibt. Damit verbunden ist die Hoffnung (für andere die Befürchtung), dass Maschinen bald den Menschen überlegen sein werden. Diese Reduktion wurde längst entlarvt, die Hoffnung hat sich nicht erfüllt – aber die Metapher vom Hirn als Datenverarbeitungsmaschine hält sich eisern.

Ein anderer Trugschluss ist, dass Wissenschaft auf Fakten beruht. Das ist nicht falsch, aber diese Fakten müssen interpretiert werden. Fakten und Zahlen alleine erklären gar nichts. Man muss allerdings zwischen Fakten und Interpretation unterscheiden können.

Die Methode der wissenschaftlichen Analyse führt dazu, Details zu isolieren und Grenzen aufzustellen, die es vorher nicht gab. Daher gibt es in der Wissenschaft sehr oft Metaphern, die sich hartnäckig halten, obwohl sie längst widerlegt sind. Beispielsweise die Vorstellung von begrenzten Hirnarealen (Sehzentrum, Sprachzentrum usw.), die für eine bestimmte Funktion zuständig sind. Diese Areale sind zwar spezialisiert, aber weder begrenzt noch feststehend. Hinzu kommt, dass das Hirn nicht isoliert vom Körper agiert und der Mensch nciht isoliert von der Umwelt und von anderen.

Mit einem Zitat von Alfred N. Whitehead deutet Hustvedt die Richtung einer Lösung all dieser Probleme der Wissenschaft an: „Soll die Wissenschaft nicht zu einem Mischmasch von ad hoc-Hypothesen verkommen, dann muss sie philosophisch werden, und in eine tiefgreifende Kritik ihrer eigenen Grundlagen eintreten.“ Dazu muss sie zurück zu ihren Wurzeln im 17. Jahrhundert. Descartes und dann Newton haben die Welt der Naturwissenschaft auf eine tote Materie reduziert, die wie eine Maschine funktioniert. Seither müssen Naturwissenschaftler das Lebendige verdrängen oder zur Maschine degradieren.

Der Fehler ist, die Methode mit dem Gegenstand zu verwechseln. Um ein Ganzes zu untersuchen, muss es in Teile fragmentiert werden, aber wenn man glaubt, diese Teile wieder zu einem Ganzen zusammensetzen zu können, dann ist das eine Illusion. In der Wirklichkeit gibt es keine isolierten Teile, sondern nur ein zusammenhängendes Ganzes. Das Ganze ist nicht das Ergebnis der wissenschaftlichen Untersuchung, sondern geht ihr voraus. Wer Körper und Seele, Materie und Geist, Hirn und Denken trennt, darf sich nicht wundern, dass er deren Zusammenwirken hinterher nicht mehr versteht. Wer den Menschen zur Maschine macht, kann ihn nicht mehr zum Leben erwecken.

Wissenschaft beschreibt nicht die Welt, sondern konstruiert eine Welt. Modell und Wirklichkeit dürfen dabei nicht verwechselt werden. Die Autorin zitiert Werner Heisenberg: „Wir müssen uns daran erinnern, dass das, was wir beobachten, nicht die Natur selbst ist, sondern Natur, die unserer Art der Fragestellung ausgesetzt ist.“ Und wenn Humberto Maturana sagt: „Wir erschaffen die Welt, in der wir leben, indem wir in ihr leben“, dann gilt das auch für die Welt der Wissenschaft.

 

Siri Hustvedt, Die Illusion der Gewissheit

Rowohlt Verlag, 2. Aufl. 2018, 414 Seiten, EUR 24,00

ISBN 978 3 498 03038 4