Die Illusion der Gewissheit

U1_978-3-498-03038-4.indd Das Gütesiegel „wissenschaftlich erwiesen“ oder „Wissenschaftler haben festgestellt“ erweckt den Glauben an die Allmacht der Wissenschaft. Die Schriftstellerin Siri Hustvedt hinterfragt dieses Gütesiegel und diesen Glauben und deckt unreflektierte Voraussetzungen auf. Als Frau ist sie den männlichen Strukturen des Wissenschaftsbetriebs anscheinend weniger ausgeliefert.

Um gleich mit einem Beispiel zu beginnen: Der Begriff „bio-psycho-sozial“ stellt in der Medizin einen großen Fortschritt dar. Das bisher ausschließlich Biologische wird ergänzt durch das Psychische und Soziale. Aber wenn man genauer hinsieht, dann trennt dieser Begriff genau das, was er vereinen will, auch wenn er ohne die Bindestriche geschrieben wird. Der Begriff wird dadurch für die Autorin kontraproduktiv. Er vernachlässigt das Weltbild und die Entwicklungsgeschichte. „Das Modell funktioniert im Grunde statisch.“ Und das Grundthema des Buches umschreibend: „Es ist immer wieder spannend zu sehen, in welchem Maß theoretische Modelle das Denken nicht nur erweitern, sondern auch sehr einschränken können.“ (Das erinnert an Einstein, der sagte dass wir nicht aus dem, was wir sehen, eine Theorie bilden, sondern die Theorie bestimmt, was wir sehen). Jedenfalls sehen wir oft nur das, was wir erwarten, und das gilt auch für Wissenschaftler.

Das Thema (vermeintliche) Gewissheit ist auch eine Auseinandersetzung mit René Descartes, der mit seiner Unterscheidung von res extensa und res cogitans getrennt hat, was zusammengehört, oder was nie getrennt war. Das zieht sich als roter Faden durch das Buch. Wissenschaft muss unterscheiden, aber wenn sie vergisst, dass sie von einem Ganzen ausgegangen ist, dann kommt es zu einer versteckten Gedankenakrobatik, um zu erklären, wie das Getrennte zusammenwirkt. Und das ist letztlich unmöglich. Sobald der Geist vom Körper, das Bewusstsein vom Gehirn getrennt ist, entstehen erst die unlösbaren Probleme, die wir kennen oder unterschlagen. Um den Dualismus zu verschleiern, kippt man in einen Pseudomonismus und der Geist wird – wie Descartes res extensa – dann auch zur Maschine.

Dann steht z.B. der Psychotherapie die Kognitive Verhaltenstherapie (KVT) entgegen. Diese „übernimmt den kartesianischen Dualismus, aber mit seinen Rätseln wollen sich seine Vertreter nicht befassen“. Es gibt immer schon unreflektierte Voraussetzungen in den Wissenschaften. Es gibt damit schon einhellig vorausgesetzte Antworten, bevor man anfängt zu forschen. So ist z.B. von angeborenen und erworbenen Eigenschaften die Rede, eine Unterscheidung, die aber sofort fragwürdig wird, wenn man nach der Grenze zwischen beiden fragt. Was genetisch vererbt ist, hängt außerdem davon ab, welche Vorstellung man von einem Gen hat. Im naturwissenschaftlichen Kontext hat es so etwas wie ein isoliertes Ding zu sein – was es aber nicht ist.

Breiten Raum nimmt die Metapher vom Hirn als Datenverarbeitungsmaschine ein, die z.B. den Konzepten der Künstlichen Intelligenz zugrunde liegt. Das Hirn wird auf die Verarbeitung von Information reduziert, womit ein Großteil der Komplexität der Wirklichkeit verloren geht und nur die abstrakten Strukturen der Logik übrigbleiben. Das Kreative wird unterschlagen, das Berechnende bleibt. Damit verbunden ist die Hoffnung (für andere die Befürchtung), dass Maschinen bald den Menschen überlegen sein werden. Diese Reduktion wurde längst entlarvt, die Hoffnung hat sich nicht erfüllt – aber die Metapher vom Hirn als Datenverarbeitungsmaschine hält sich eisern.

Ein anderer Trugschluss ist, dass Wissenschaft auf Fakten beruht. Das ist nicht falsch, aber diese Fakten müssen interpretiert werden. Fakten und Zahlen alleine erklären gar nichts. Man muss allerdings zwischen Fakten und Interpretation unterscheiden können.

Die Methode der wissenschaftlichen Analyse führt dazu, Details zu isolieren und Grenzen aufzustellen, die es vorher nicht gab. Daher gibt es in der Wissenschaft sehr oft Metaphern, die sich hartnäckig halten, obwohl sie längst widerlegt sind. Beispielsweise die Vorstellung von begrenzten Hirnarealen (Sehzentrum, Sprachzentrum usw.), die für eine bestimmte Funktion zuständig sind. Diese Areale sind zwar spezialisiert, aber weder begrenzt noch feststehend. Hinzu kommt, dass das Hirn nicht isoliert vom Körper agiert und der Mensch nciht isoliert von der Umwelt und von anderen.

Mit einem Zitat von Alfred N. Whitehead deutet Hustvedt die Richtung einer Lösung all dieser Probleme der Wissenschaft an: „Soll die Wissenschaft nicht zu einem Mischmasch von ad hoc-Hypothesen verkommen, dann muss sie philosophisch werden, und in eine tiefgreifende Kritik ihrer eigenen Grundlagen eintreten.“ Dazu muss sie zurück zu ihren Wurzeln im 17. Jahrhundert. Descartes und dann Newton haben die Welt der Naturwissenschaft auf eine tote Materie reduziert, die wie eine Maschine funktioniert. Seither müssen Naturwissenschaftler das Lebendige verdrängen oder zur Maschine degradieren.

Der Fehler ist, die Methode mit dem Gegenstand zu verwechseln. Um ein Ganzes zu untersuchen, muss es in Teile fragmentiert werden, aber wenn man glaubt, diese Teile wieder zu einem Ganzen zusammensetzen zu können, dann ist das eine Illusion. In der Wirklichkeit gibt es keine isolierten Teile, sondern nur ein zusammenhängendes Ganzes. Das Ganze ist nicht das Ergebnis der wissenschaftlichen Untersuchung, sondern geht ihr voraus. Wer Körper und Seele, Materie und Geist, Hirn und Denken trennt, darf sich nicht wundern, dass er deren Zusammenwirken hinterher nicht mehr versteht. Wer den Menschen zur Maschine macht, kann ihn nicht mehr zum Leben erwecken.

Wissenschaft beschreibt nicht die Welt, sondern konstruiert eine Welt. Modell und Wirklichkeit dürfen dabei nicht verwechselt werden. Die Autorin zitiert Werner Heisenberg: „Wir müssen uns daran erinnern, dass das, was wir beobachten, nicht die Natur selbst ist, sondern Natur, die unserer Art der Fragestellung ausgesetzt ist.“ Und wenn Humberto Maturana sagt: „Wir erschaffen die Welt, in der wir leben, indem wir in ihr leben“, dann gilt das auch für die Welt der Wissenschaft.

 

Siri Hustvedt, Die Illusion der Gewissheit

Rowohlt Verlag, 2. Aufl. 2018, 414 Seiten, EUR 24,00

ISBN 978 3 498 03038 4

 

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