„Der lange Weg zu sich selbst“

Eugen Drewermann, der erst unlängst und zu Recht den Herman Hesse Preis verliehen bekam, hat in seinem neuesten Buch „Hermann Hesse. Der lange Weg zu sich selbst. Zur Sprengkraft eines literarischen Denkens“ dem Dichter ein würdiges Denkmal gesetzt.

Was Drewermann mit Hesse verbindet, ist ein lebenslanges Bemühen um einen Dialog der Kulturen und Religionen sowie der radikale und streitbare Lebensweg des Einzelnen. Dieser lange Weg zu sich selbst ist aber eine oft verzweifelte Verteidigung des Individuellen gegen das Normierte[1] – im Falle Hesses im Angesicht des Krieges, im Falle Drewermanns auch in der Auseinandersetzung mit der Amtskirche. Der Mensch auf dem Weg zur Individuation (ein Begriff der Analytischen Psychologie von C.G. Jung, dem Hesse auch persönlich begegnet ist) wird immer Anstoß bei Kollektiven erregen. Hesse bezeichnet das als „Tugend des Eigensinns“, des je eigenen Sinns.

Für den Dialog der Kulturen ist Hermann Hesse ein einsamer Höhepunkt. Sein „Siddharta“ ist der Roman gewordene Dialog der Kulturen, der – wie könnte es bei Hesse anders sein – in eine ganz individuelle und authentische „Lösung“ mündet. Die nicht nur Asketentum und Leben, sondern auch Ost und West, Individualität und Empathie verbindet. Viele Zitate von Hermann Hesse könnten auch von Eugen Drewermann sein. Wie etwa folgendes: „Wir müssen unser eigenes Leben leben, und das bedeutet etwas Neues und Eigenes, immer Schwieriges und auch immer Schönes für jeden Einzelnen. Es gibt keine Norm für das Leben, es stellt jedem eine andere und einmalige Aufgabe.“ (Das Zitat stammt aus einem Brief von Hermann Hesse).

Menschliche Konflikte

Hesses Charaktere sind meist von Gegensätzen geprägt, die zu einer Einheit streben – zumindest im Inneren der Protagonisten. So ist in „Narziss und Goldmund“ der Abt Narziss dem Denken verpflichtet (im wahrsten Sinne des Wortes), das aber „“ein beständiges Abstrahieren, ein Wegsehen vom Sinnlichen, ein Versuch am Bau einer rein geistigen Welt ist. Zu Goldmund, dem Gefühlsmenschen und Künstler, sagt er: „Du aber nimmst gerade das Unbeständigste und Sterblichste ans Herz und verkündest den Sinn der Welt gerade im Vergänglichen. Du siehst nicht davon weg, du gibst dich ihm hin, und durch deine Hingabe wird es zum Höchsten, zum Gleichnis des Ewigen.“ Goldmund lehrt seinem Lehrer, dass das pralle Leben über Abgründe, aber nicht in den Abgrund führt, dass dieses Leben nicht nur menschlicher, sondern auch mutiger und größer ist als sich Gott nähern zu wollen durch Abwendung von der Welt.

Dies ist aber der Konflikt in jedem Menschen, wovon auch der „Steppenwolf“ handelt, in dem es heißt: „Der Mensch ist ja keine feste und dauernde Gestaltung …., er ist vielmehr ein Versuch und Übergang, er ist nichts anderes als die schmale, gefährliche Brücke zwischen Natur und Geist.“ Nichts führt mehr in die Menschwerdung hinein als das Annehmen dieses Konflikts. Der Schauplatz dieses Ringens mit dem Engel ist der Mensch, und wie Drewermann schreibt, „ist Religion, so verstanden, der Austragungsort dieses Ringens um die Integration der Gegensätze in der eigenen Seele, um die Geburt des Selbst, um die Einheit mit sich selbst“.

Wie Hesse ist Drewermann Pazifist durch und durch, aber „Pazifismus ist keine Ideologie, er ist die einsame Entscheidung eines Einzelnen.“ Mit der Botschaft Christi ist kein Krieg zu machen, so Drewermann. Aber mit der Botschaft der Kirche konnte man Krieg gegen den damaligen Priester Drewermann machen und ihn letztlich ausgrenzen. Denn Drewermann stellt klar: „Nicht um den Aufbau einer Kirche ging es dem Mann aus Nazareth, wohl aber um die Herausführung der Menschen aus ihren Abhängigkeiten, Zwängen, Ängsten, Icheinschränkungen und Schuldgefühlen.“ Seine „Religion“ war eine heilende, daher ist das Evangelium psychotherapeutisch zu verstehen. Diese Religion kann nur individuell sein, weil es gilt, sich „von sämtlichen dieser Schablonen freizumachen“.

Das Individuelle gegen das Normierte verteidigen

Doch was ist daraus geworden? „Aus dem Tempel der Freiheit des Menschen ist eine zu Ende dogmatisierte, ritualisierte und konfessionalisierte Opferstätte des selbständigen Denkens und der persönlichen Entfaltung geworden, ein Ort des Aberglaubens, des Gewissenszwangs und der konfirmierten Kirchenkonformität.“ Drewermann ist mit dieser Ansicht nicht alleine. Schon Sören Kierkegaard hat die verfasste Kirchenfrömmigkeit als grotesken Verrat an der Botschaft Jesu bloßgestellt. Daher muss die Psychotherapie heute vieles leisten, was Aufgabe der Kirche gewesen wäre. Nichts ist dem Menschen so zugewandt wie die Seelenheilkunde von Freud und Jung, sagt Drewermann. „Sie fordert eine Wahrhaftigkeit gegen sich selbst, an die wir nicht gewöhnt sind.“

Dem Dichter wie dem Psychotherapeuten geht es um das uralte Thema von Anpassung und Selbstfindung. Zwischen beiden Haltungen ist einerseits eine Brücke zu finden, andererseits eine radikale Abwendung von totalitärer Konformität, die Anpassung bis zur Selbstaufgabe fordert und in Kriegen mündet. „Denn der Krieg braucht Massenpsychologie – der Einzelne aber, wenn er bewusst lebt, gehört einer anderen Welt an!“ Das stellt Hesse klar, ebenso dass es „gegen den Krieg nur eine einzige fundamentale Gegenkraft gibt: die Individuation des Einzelnen, die Entwöhnung des Menschen vom Sog der Masse, die Erziehung der Menschen zu Eigensinn und Eigenverantwortung“.

Drewermann zitiert Laotse: „Einen Sieg auf dem Schlachtfeld soll man begehen mit einer Trauerfeier.“ Und er fügt hinzu: „Wie lang ist das her, und wie beschämend weit sind wir noch davon entfernt!“ Wir hätten noch immer nichts begriffen von der Zusammengehörigkeit aller Menschen, jenseits der künstlichen Einteilung in „befreundete“ und „feindliche“, „verbündete“ und „gegnerische“ Völker. „Wie kann eine Politik dem Frieden dienlich sein wollen, die immer noch dem gröbsten Hordendenken der Steinzeit verhaftet ist?

Die Ambivalenz des Lebens

Hesse ist nicht nur der Dichter der menschlichen Gegensätze, sondern auch der Ambivalenz, bei der keine Moral je geholfen hat. In seiner Novelle „Klein und Wagner“ bekennt Hesse: „Auch ich schlage mich bald mit dem Mörder, mit dem Tier und Verbrecher in mir beständig herum, aber ebenso auch mit dem Moralisten, mit dem allzu früh zur Harmonie Gelangenwollen, mit der leichten Resignation, mit der Flucht in lauter Güte, Edelmut und Reinheit.“ Und Drewermann führt zur Moral aus: „Die vereinseitigte moralische Stellungnahme, die durch keinerlei konkrete Menschenkenntnis gereifte moralische Bewertung des Lebens, die starre Isolierung einzelner Verhaltensweisen aus dem Geflecht von Motivation und Situation zeigt sich nicht nur außerstande, dem Menschen wirklich zu helfen, sie ist selber am Ende die Quelle von vielerlei Arten der Unaufrichtigkeit und seelischen Erkrankung.“

Beiden kommt es einzig und allein auf das Verstehen an, Verstehen statt Urteilen und Verurteilen. Um anderen nahe zu kommen, muss man moralische Wertungen abbauen. Wer andere verstehen will, muss sich zuerst mit dem Dunklen in sich selbst beschäftigen und es annehmen. So bekennt Hesse, „ich musste neue Töne suchen, ich musste mich mit dem Unerlösten und Uralten in mir selber blutig herumschlagen – nicht um es auszurotten, sondern um es zu verstehen, um es zur Sprache zu bringen, denn ich glaube längst nicht mehr an Gutes und Böses, sondern glaube, dass alles gut ist, auch das, was wir Verbrechen, Schmutz und Grauen heißen…

Dazu erläutert Drewermann: „Wenn man dagegen zu begreifen beginnt, aus welchen Gründen ein Mensch etwas tut, wird bald schon klar, dass nicht die einzelne Handlung das Wichtige ist, entscheidend ist, was das einzelne Tun im Leben dieses Menschen bedeutet.“ Moral und Gesetz können da nichts ausrichten, wo es um den Menschen geht. Das mündet in der Erkenntnis, dass nur ein Mensch, der sich selbst gefunden hat, wirklich „gut“ zu sein vermag. Er hätte den Mut zur Wahrhaftigkeit gefunden, die aus der Bejahung auch des Unheimlichen im Menschen, aus der Integration der unbewussten, verdrängten Inhalte der Psyche kommt. Auch das muss man annehmen: „Das Leben ist sinnlos, grausam, dumm und dennoch prachtvoll.

Zukunftsfähige Religiosität

Damit sind wir aber schon in der Dimension der Religiösen – jenseits aller Dogmatik. „Erst dann, wenn man die ganze Scheußlichkeit oder Sinnlosigkeit der Natur in sich aufgenommen hat, kann man beginnen, sich dieser rohen Sinnlosigkeit gegenüber zu stellen und sie zu einem Sinn u zwingen. Es ist das Höchste, wozu der Mensch fähig ist, und es ist das Einzige, wozu er fähig ist. Alles andere macht das Vieh besser.“ Religion, wie sie Drewermann und Hesse verstehen, hat vor allem zwei Ziele: die Einheit der Menschen zu fördern, und die Herausbildung des Individuums zu ermöglichen. Beides hängt unmittelbar zusammen.

Konfessionen sah Hesse als „Karikaturen des Nationalismus“. Er bekannte sich zu einer Art mystischem Christentum neben einer mehr indisch-asiatischen Religiosität, „deren einziges Dogma der Gedanke der Einheit ist“. Einer solchen Religiosität spricht auch Drewermann Zukunftsfähigkeit zu: „universell und individuell zugleich, personenzentriert und kulturübergreifend, dogmatisch ungebunden, doch existenziell umso verbindlicher“.

Für viele wird dieses Buch Eigen Drewermanns über Hermann Hesse eine neue Sicht auf den Dichter durch die Augen des Psychotherapeuten gewähren, und nicht zuletzt – ganz im Sine beider – einen Blick in die eigenen Tiefen der Seele.


Eugen Drewermann: Hermann Hesse. Der lange Weg zu sich selbst. Zur Sprengkraft eines literarischen Denkers. Patmos Verlag 2019.

ISBN 978-3-8436-1196-1
EUR 20.00


[1] Eugen Drewermann: Das Individuelle gegen das Normierte verteidigen. Zwei Aufsätze zu Hermann Hesse. 1995. (Im vorliegenden Band wieder enthalten).

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