Tausendundeine Nacht

Die Märchen aus Tausendundeiner Nacht prägten über Jahrhunderte das Orientbild des Westens. Dichter, Denker und Künstler beschäftigten sich gleichermaßen mit den faszinierenden Erzählungen. Dadurch ist dieses exotische Werk der arabischen Welt auch Teil der westlichen Kultur geworden.

Tausendundeine Nacht, wbg Edition 2019

Worum es geht, ist bekannt. König Schahriyar nimmt, von seiner Gemahlin betrogen, am weiblichen Geschlecht Rache, indem er jeden Tag eine Jungfrau heiratet und sie am Morgen töten lässt. Die schöne und kluge Tochter seines Großwesirs, Schahrazâd, will diesen Bann brechen und erzählt in tausendundeiner Nacht um ihr Leben. Sie fasziniert ihn mit ihren Märchen, Geschichten, Abenteuern, so dass er das Töten immer wieder hinausschiebt, um die Fortsetzung am nächsten Tag zu erleben.

Die Erzählungen sind sehr alt, und ihre Entstehung bleibt im Dunkeln. Teile davon sind indischen Ursprungs, andere stammen aus dem vorislamischen Iran, viele spielen in Bagdad, und manches stammt aus Ägypten. Die Sammlung basiert auf mündlicher Überlieferung, sie wuchs und änderte sich dadurch fortwährend. Es ist lebendiges Erzählgut, daran änderten auch schriftliche Aufzeichnungen nichts, davon zeugen unzählige Versionen.

In Europa sind Teile der Sammlung ab 1400 bekannt. Mit der ersten umfangreichen Ausgabe des französischen Orientalisten Antoine Galland Anfang des 18. Jahrhunderts begann dann der Siegeszug von Tausendundeiner Nacht im Westen. Es folgten unzählige Ausgaben und Übersetzungen, mit und ohne die Wiedergabe freizügiger Liebesgedichte und blumig-orientalischer Erotik.  

Das Juwel

Nun gibt es eine faszinierende Neuausgabe der Märchen aus 1001 Nacht als Prachtband: Hardcover in Leinen mit goldverzierter Kassette und Goldprägung. Ein reich illustriertes Märchenbuch mit 450 farbigen Abbildungen: arabische, indische und persische Miniaturen neben Malereien europäischer Großmeister wie Klimt, Moreau, Rackham, Nielsen, Beardsley und Doré.

Soweit die Eckdaten. Mit diesem Werk ist es möglich, in eine andere Welt einzutauchen, unser eingeborenes Weltbild zu verlassen und sich mit einer anderen Sprache vertraut zu machen. Wobei mit Sprache nicht Arabisch oder die deutsche Übersetzung gemeint ist, sondern die reiche Bildersprache des Orients. Wir verlassen die (un)sichere Welt der Fakten und begeben uns in eine Welt, in der alles Fantasie ist, nichts feststeht, alles in Fluss ist, sich ständig wandelt. Selbst das vorliegende Buch ist Momentaufnahme – wenn auch ein Markstein – einer sich ständig verändernden und weiter wandelnden Erzähltradition.

Es ist ein Märchenbuch für Erwachsene, es ist Kulturgeschichte und Geschichte der Begegnung zwischen Ost und West, es ist ein prachtvoller Kunstband – und wenn man so will, auch ein philosophisches Werk, weil es dazu anregt, das eigene Weltbild zu hinterfragen. Gibt es das, was wir als Fakten bezeichnen? Oder sind das nur Momentaufnahmen, die wir eigentlich auch nicht festhalten können? Ist es nicht die Fantasie, die uns am Leben erhält und die Realität verlebendigt? Braucht es nicht einen neuen Zugang zur Innenwelt? Wäre es nicht wichtiger, uns mit Leibniz, Goethe und C.G. Jung zu beschäftigen, statt uns hinter der klassischen Physik des 19. Jahrhunderts zu verschanzen? Wäre die Beschäftigung mit Märchen – auch den westlichen – nicht oft zielführender als die Beschäftigung mit der rauen, isolierten und isolierenden Außenwelt? Und ist diese nicht letztlich ein Spiegelbild der inneren Welt, die wir verdrängen und verleugnen?

Hat unser Bild des Nahen Ostens mit der aktuellen terroristischen Konnotation wirklich etwas mit der dortigen Kultur zu tun? Wird in den Städten und im Wüstensand, aber auch in unseren Köpfen, diese Kultur nicht aktuell zerstört? Was tragen wir durch unsere Fremdenfeindlichkeit – die das Fremde in der eigenen Psyche verdrängt und auf Feindbilder projiziert – zu dieser Zerstörung bei? Warum lassen wir uns unser Bild dieser Kultur und Religion von Terroristen aufzwingen? Sind wir noch zu eigenem Denken fähig? Oder lassen wir uns unsere „Meinung“ von der Gratis- und Billigpresse vorkauen?

Die Nächte zu lesen, bedeutet, die verwunschene Pforte zum Paradies eines ganzen Kulturkreises zu öffnen“, heißt es in der Einleitung von Margaret Sironval. Es kann aber auch die Pforte zur Fantasie und zur (eigenen) Innenwelt sein, zu einer neuen Sicht von Ost und West, und zu einem fließenden, dynamischen Weltbild, das unser statisches Weltbild auflockern kann.

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Tausendundeine Nacht

In Zusammenarbeit mit Margaret Sironval. 496 Seiten mit 450 farb. Abb., 25,5 x 32 cm, Fadenh., Luxusedition in Kassette mit Leinenbezug und Goldprägung. wbg Edition 2019

Eros und Mystik

Zwei Begriffe, die man nicht so oft in einem Atemzug erwähnt, und doch gehören sie untrennbar zusammen. Die erotische Dimension des Menschlichen ist ein zentrales Medium religiöser Sprache. Berninis Skulptur von der gottverliebten Teresa von Avila zeigt dies deutlich. „O du ruhender Gott an meinen Brüsten“, betete etwa Mechthild von Magdeburg.

Teresa von Ávila in mystischer Verzückung, Skulptur von Giovanni Lorenzo Bernini (1598-1680) in der Karmeliterkirche Santa Maria della Vittoria, Rom

CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=2953498

Frankfurt, 28. November 2019. Im Haus am Dom hält der Theologe Gotthard Fuchs, Experte für Mystik und interreligiösen Dialog, einen Vortrag über „Eros und Mystik“. Als Eingangszitat wählt er Ingeborg Bachmann: „In allem ist immer zu wenig.“ Um verständlich zu machen, worum es geht, zitiert Fuchs im selben Zusammenhang einen Spruch der alten Römer: „Post koitum ist der Mensch deprimiert.“ Der Orgasmus ist das Äußerste, das auch ein einfacher Mensch erleben kann, aber er lässt ihn immer etwas ratlos zurück. Vor allem, weil er nicht von Dauer ist und sein kann.

Man kann dem ein anderes Eingangszitat des Vortragenden gegenüberstellen, nämlich Nietzsche: „Wo Sehnsucht und Verzweiflung sich paaren, da entsteht die Mystik.“ Damit ist durchaus das sehnsüchtige Begehren gemeint, dem sich nur zu oft die Verzweiflung beigesellt, aber aus dieser verzweifelten Spannung kann Mystik entstehen. Mystik, wie sie hier gemeint ist, ist nicht weltabgewandt, im Gegenteil, sie entsteht und steht mitten im Leben.

Erotik, Mythos und Religion

Eros und Sex sind das wohl Ambivalenteste, das der Mensch erleben kann. Dementsprechend oszilliert die Einstellung dazu zwischen Vergöttlichung und Verteufelung. Dass die Kirche die längste Zeit Eros und Sex verteufelt hat, wirft auch der Theologe ihr vor. Sie hat damit unsägliches Leid über die Welt gebracht. Während das Alte Testament voller Erotik ist, man denke nur an das Hohe Lied mit seinen sexuellen Anspielungen, ist im NT nichts mehr davon zu finden. „Das Neue Testament meidet den Eros wie die Pest“, so Fuchs. Warum das so ist, versucht er zu erklären. Für die Griechen war Eros ein Gott und die Sexualität wurde vergöttlicht. Dem musste das NT gegensteuern, denn christlich ist es, das Thema nicht zu vergöttlichen und nicht zu verteufeln. Dass sie dann im Gegensteuern den Sex verteufelt hat, ist eine der Tragödien des Christentums.

Wer sich mit dem antiken Mythos beschäftigt, wird dem nicht ganz zustimmen können, und zwar deshalb, weil die Götter im Mythos etwas ganz anderes waren als der Gott der Juden und Christen. Es mag stimmen, weil zur Zeit der Geburt des Christentums der Mythos längst in den Logos, sprich Philosophie, übergegangen und der ursprüngliche Mythos längst nicht mehr lebendig war. Im Mythos aber sind die Götter nicht mit dem Gott der Christen vergleichbar. Sie sind das Numinose an allem Sein, also gerade nicht getrennt vom Irdischen, nicht transzendent, sondern immanent. Die Götter sind unmittelbare Erfahrung des Menschen, und „Vergöttlichung“ wäre in diesem mythischen Denken gar nicht das, was Christen darunter verstehen.

Gott ist Eros

Später versuchte Origenes, Christentum und Griechentum zu verbinden. Gott ist gleich Eros, lautete seine „Formel“. Mystik ist die Tiefe des Seins im Ganzen. Mystik ist nichts Abgehobenes, sondern verbindet die äußersten Enden des Seins und des Lebens. Das christlich Wesentliche ist die Inkarnation, das Göttliche wird menschlich und das Menschliche dadurch göttlich. Dadurch ist die Mystik dem Mythos wieder viel näher, der Menschliches und Göttliches nicht trennt. Fuchs verweist auf die Hl. Teresa v. Avila und deren bekannteste Vision, die Durchbohrung ihres Herzens, die Bernini als erotische Verzückung dargestellte, und die Teresa selbst als Verquickung von ungeheurem Schmerz und überwältigender Zärtlichkeit beschreibt: „Es ist eine so zärtliche Liebkosung, die sich hier zwischen der Seele und Gott ereignet….“

Mystische Texte sind voller Erotik, und umgekehrt: Sex hat eine mystische Dimension. Und nur weil wir geschlechtliche Wesen sind, können wir Gott lieben. Gott selbst ist Eros und Begehren. So beschreibt auch Mechthild von Magdeburg die Beziehung von Gott und Seele in durch und durch erotischen Begriffen – und zwar von beiden Seiten. Wobei Eros, röm. Amor, nicht nur der Gott mit den berühmt-berüchtigten Pfeilen ist, sondern „amor“ heißt auch „ich werde geliebt“. So könnte man Descartes‘ „cogito ergo sum“ verlebendigen als „amor ergo sum“ – „Ich werde geliebt, also bin ich“. Denn entgegen aller esoterischen Sprüche ist die Selbstliebe nicht die Voraussetzung für die Liebe, sondern das Geliebt-Werden ist Voraussetzung für die Selbstliebe und Ich-Werdung. Eine isolierte Selbstliebe käme gar nicht aus sich heraus, während das Geliebt-Werden das Ich am Du erst zum Ich macht. Was eine durchaus erotische, sexuelle und mystische Dimension hat.

Sex und Kirche

Nichts Weltliches soll vergöttlicht werden, aber Gott ist in allem. Die Materie und das Körperliche ist der Ort des Geheimnisses, ist Symbol und Sakrament. Das wäre die Botschaft des Christentums. Das ist es aber, was die Amtskirche so grundlegend missverstanden und missbraucht hat. Materie und Sex sollte man nicht über-, aber auch nicht unterschätzen, so der Tenor des Vortrags im Haus am Dom in Frankfurt. Das forderte natürlich die üblichen Fragen aus dem Publikum heraus. Vor allem, wie dieses offene Reden über Sex mit der Lehre der Kirche zu vereinbaren sei, und ob er als Theologe da nicht in Schwierigkeiten gerate? Seine durchaus überraschende Antwort: Das alles steht voll und ganz in der Tradition des Kirche. Mystiker, so Fuchs, glauben nicht an die Kirche, sondern „mittels, dank und trotz der Christentums“. Die Kirche sei „ein Sauladen mit Goldschätzen“. Und auf die Frage, wie das mit Rom zu vereinbaren sei, zitiert Fuchs einen französischen Theologen: „Die Kurie ist doch nur eine Warze im Gesicht der Kirche.“ Kirche ist nicht die Kirche der Mitra, aber sie verwaltet Schätze, die wir ohne sie gar nicht hätten.

Mystik: Gottesnähe und Gottesferne

Aber wenn wir den Faden bei Teresa von Avila wieder aufnehmen: Sie erlebte auch die extreme Gottesferne und hat diese Nacht der Mystik als erste beschrieben. Da war nichts mehr, kein Glaube, keine Hoffnung, keine Liebe. Und so nebenbei: Dass man Mutter Teresa wegen ähnlicher Zustände so abwertet und von außen beurteilt, ist lächerlich. Das kann sogar eine Hochform der Mystik sein. Erst wenn man auch diese totale Negation lieben gelernt hat, diese Gottesferne und Fremde Gottes, die Innigkeit und Tiefe der Gottlosigkeit, wie es Teresa beschreibt, erst dann kann man von erwachsener Religion sprechen. Die kann und muss alles einbeziehen: alle Höhen und Tiefen, Gottesnähe und Gottesferne, Geistiges und Körperliches. Teilhard de Chardin sprach von der Amorisation der Materie.

Simone Weil schreibt 1996: „Mystikern vorzuwerfen, sie liebten Gott mit der Kraft der sexuellen Liebe, das ist so, als würde man einem Maler vorwerfen, Bilder mit Farben zu malen, die aus materiellen Substanzen bestehen. Wir haben nichts anderes, womit wir lieben können. Übrigens wäre es genauso möglich, einem Mann, der eine Frau liebt, denselben Vorwurf zu machen.“

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