Kirche und Missbrauch – symbolisch gesehen

DSCN3997In unserer nüchtern-rationalen Begriffssprache sind die immer neu auftauchenden Missbrauchsskandale der Kirchen bloß verabscheuungswürdige Tatbestände. In bildhaft-symbolischer Sprache – die die Kirche leider selbst verlernt hat – liegt ein viel tieferer Bedeutungszusammenhang.

Der Missbrauch richtet sich vorwiegend gegen junge Menschen in und um die Pubertät, in der diese zur Sexualität erwachen. In diesem Erwachen werden sie nachhaltig geschädigt. Sie werden ihre natürliche, lebendige Sexualität nie mehr erleben können. Und zwar durch ein innerkirchliches Geschehen, das weit über den Tatbestand hinausgeht.

Nehmen wir dies als Symbolbild, als Bild einer Kirche, die (ihre) Sexualität unterdrückt, verteufelt und damit abspaltet. Der unterdrückte menschliche Trieb richtet sich gegen sich selbst, gegen Jungendgruppen und Ministranten, gegen die junge, nachwachsende Kirche sozusagen. Der unterdrückte Trieb ver-zwei-felter (zwei-geteilter, abspalten müssender) Priester, der nicht sein darf und in die Unterwelt, die Welt der Toten (der abgetöteten psychischen Inhalte) verdrängt wird, richtet sich mit Gewalt gegen die noch unberührte Kirche und zerstört nun das, was zum natürlich Menschlichen heranreifen könnte.

Die gespaltene Sexualität

Die Kirche war nie imstande, die Sexualität in ihrer Ganzheit wahrzunehmen und anzunehmen. Sie spaltete diese in die (notgedrungen gute oder wenigstens nicht böse) Zeugungskraft und die böse Unkeuschheit, der abzuschwören ist. Dass damit die Hölle, die dann eifrig gepredigt wurde, mit dieser Abspaltung erst geschaffen war, blieb ihr unbewusst. Die Hölle ist ja nicht ein Ort im Jenseits, sondern eine Schöpfung des Menschen, der sie sich selbst als Schattenwelt in sich schafft.

Einerseits wird das Dunkle, Animalische der Sexualität abgelehnt und abgespalten, andererseits kommt es gerade dadurch zu einer Fixierung auf diese dunkle Seite, womit auch die helle Seite verdrängt und geradezu verboten wird: die auch dem „Normal-Sterblichen“ mögliche irdische Ektase im Orgasmus, die ein Wiener Priester in einer Predigt im Stephansdom einmal als Vorgeschmack des Himmels bezeichnete.

Missbrauch durch das Wort

Damit zeigt sich an dieser Extremsituation des Missbrauchs, was die Einstellung der Kirche zur Sexualität bei den Menschen anrichtet. Sicher, es ist kein Massenphänomen, es ist nur ein Bruchteil der Priester betroffen. Es geht aber andererseits auch nicht nur um diese sexuellen Missbräuche. Es gibt genauso – wie erst kürzlich ein anderer Priester in Wien in seiner Predigt feststellte – einen Missbrauch des Wortes, durch eine engherzige Einstellung, durch Verurteilung, Fundamentalismus, durch verbale Verteufelung der Sexualität. Dieser Priester erzählte erschüttert von einer 85jährigen Frau, die in der Beichte gestand, dass sie ihren Mann nicht zu berühren wagt, weil das die Kirche doch verbietet. Das meinte er mit Missbrauch durch das Wort. Durch diese Einstellung der Kirche sind nicht Einzelne, sondern Generationen geschädigt, missbraucht worden. Nicht durch einzelne Priester, sondern im Kollektiv, nicht einzelne Opfer, sondern die Gesamtheit der „Schäfchen“. Mit der Verteufelung der Sexualität wird den Menschen auch dieser Vorgeschmack des Himmels vorenthalten. Verbunden mit der Hölle von Zwängen, Schuldgefühlen und menschlichen Tragödien. Dafür gibt es noch keine Entschuldigung der Kirche.

Das Konzil und die Gegensätze

1965 tagte das Zweite Vatikanische Konzil, das einen frischen Wind in die Kirche brachte. Von einem gewaltigen Aufbruch, den es tatsächlich brachte, war bald danach nichts mehr zu spüren. Die konservativen Gegenkräfte krochen aus allen Winkeln hervor. Und auf diese fallen die Missbrauchsskandale zurück. Alles enthält sein Gegensätzliches. Enantiodromie nannte das der antike Philosoph der Dynamik, Heraklit. Es abzuspalten schafft es nicht aus der Welt. Es ist daher nicht verwunderlich, dass nach der Vermenschlichung der Kirche im Konzil nun erneut das Unmenschliche ans Licht kommt. Die Kirche muss ihren Schatten integrieren. Und vor allem ihre Einstellung zur Sexualität ändern. Die Skandale könnten ein reinigendes Feuer sein.

Von der Jugendsynode 2018 tönt es aus Rom: „Wir müssen die Stimme der Jugend hören!“ Das wäre ein Schritt in die richtige Richtung. Die kümmert sich nämlich schon längst nicht mehr um die modrigen „Moralvorstellungen“ der Kirche. Sie versucht, auf sich allein gestellt, ihre eigenen Vorstellungen zu verwirklichen. Dass die nicht „unmoralisch“ sind, wissen wir aus zahlreichen Umfragen zu diesem Thema. Sie lassen zwar so manchem konservativen Bischof die Haare zu Berge stehen, aber es ist – im Gegensatz zu einem starren, bloß nachgebeteten Moralkodex – ein lebendiger Umgang mit sich und den anderen. Und das wirklich Entscheidende: Er kommt von innen, aus eigener Verantwortung, und nicht von oben, von einem kirchlichen Über-Ich. Eine von außen oder „oben“ übernommene Moral ist ohnehin unmoralisch.

Kirchturm und Katakomben

Um auf die Symbolik zurückzukommen: Die Kirchenbauten strecken sich hoch aufragend in den Himmel, ein Bild des Strebens nach Transzendenz. Unterhalb der Kirche liegen die Grabstätten von Bischöfen oder Fürsten, die der Kirche zugetan waren, manchmal Katakomben, eine eigene Unterwelt. Symbolisch ist das die Schattenwelt, die Unterwelt, oder die „Leichen im Keller“ der Kirche, das was verdrängt wurde und wird, was kaum zugänglich ist. Ein Bibelwort drängt sich auf: „Weh euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler! Ihr seid wie die Gräber, die außen weiß angestrichen sind und schön aussehen; innen aber sind sie voll Knochen, Schmutz und Verwesung.“ (Mt 23,27). Und manchmal drängt sich auch der Verdacht auf, dass die Kirche nicht die Sukzession der Apostel, sondern der Pharisäer ist – oder zumindest beides.

Mit der Abwertung und Verteufelung der Sexualität hat man diese als „Schmutz und Verwesung“ in die Unterwelt verbannt, von wo sie nur noch energiegeladener – auch in die eigenen Reihen – zurückkommt. Und da man auch die helle, schöne Seite verbannt hat, richtet sie umso mehr Schaden an. Nicht nur die Revolution frisst ihre Kinder, auch die Verdrängung und Abspaltung. Missbrauch, aber auch seelische Verkrüppelung (durch restriktive Vorschriften) von vielen ist das Ergebnis. Verhindert wird die natürliche Entfaltung des Lebendigen. Wenn man den Weg und das Leben verdrängt, dann wird auch die Wahrheit zur Perversität.

Und hinter all dem steht die Absurdität, dass Kirche von der Seele redet, aber von der Psyche keine Ahnung hat, und die Psychologie auch noch verteufelt. Wie es Eugen Drewermann noch mit voller Wucht zu spüren bekam. Mit der Psyche wird aber das eigentlich Menschliche verdrängt. Die verbleibende Kluft zwischen Materiellem und Geistigem wird damit zum Abgrund, der nicht zu überbrücken ist.

Das Lebendige in Zeiten des Umbruchs

DSCN3243Diskussionsbeitrag zu Ludger Verst: „Abschied vom leeren Himmel? Entstehen und Vergehen von Gottesbildern“. Entwicklungspsychologische Einblicke in den Religionsunterricht.

Ich behaupte einmal ganz dreist, dass die Menschheit im 17. Jahrhundert in ihre Pubertät eingetreten ist. Ihre Repräsentanten waren Galilei, Descartes und Newton. Alle drei durchaus noch dem vorpubertären Glauben unterworfen, war ihre Sache doch die Rebellion. Galilei wurde nicht der Ketzerei angeklagt – sein Weltbild wurde schon 1632, also vor dem Prozess von Rom approbiert – sondern wegen „Ungehorsams“. Er hatte seinen Freund, den Papst, in einer Schrift lächerlich gemacht, wie das Pubertierende eben mit ihren Eltern so machen.

Pubertierende leben in einem inneren Krieg. Die Neue Wissenschaft (Naturwissenschaft) entstand in den Kriegswirren des 30jährigen Krieges. Und es war ein Kampf um die Wahrheit (Herbert Pietschmann). Galilei wollte WISSEN – und die WAHRHEIT dem Papst überlassen. Descartes suchte ein Denken, das nicht sofort dazu führt, dass die Menschen einander den Schädel einschlagen.

Pubertierende sind noch in der äußersten Ablehnung der Eltern doch deren System verhaftet. So waren die Gründer der Naturwissenschaft in ihrem „Kampf“ um die Wahrheit und gegen die Dogmen der Kirche immer noch der aristotelischen Logik verhaftet. Die Gegner Galileis saßen ja nicht in Rom, sondern in Paris. Die Pariser Universität sah ihr aristotelisches Weltbild gefährdet.

Die Welt, wie sie nicht ist

Die neue Wissenschaft war nur ein erster Schritt heraus aus der Welt (der Eltern), wie wir sie erleben. „Galilei wagte es, die Welt so zu beschreiben, wie wir sie nicht erfahren. – Aber dafür mathematisch einfach.“ (Carl Friedrich von Weizsäcker). Es war letztlich die Revolte gegen die Anschaulichkeit. Wir können alle beobachten, dass eine Münze schneller zu Boden fällt als ein Blatt vom Baum. Die Naturwissenschaft behauptet, alle Körper fallen gleich schnell. Das tun sie nur im Vakuum, und ein solches gibt es nicht. Aber es lässt sich (Pietschmann)fantastisch damit rechnen.

Newton konkretisierte dann: Nicht was wir erleben, ist wirklich, sondern was wir messen können. Das hat sich unserem Weltbild eingeprägt: Wir können uns noch so schlecht fühlen, wenn das Fieberthermometer 36,8 zeigt, haben wir kein Fieber! Newton weiter: Wir müssen für alles eine Ursache finden. Aber Ursachen werden nicht gefunden, sondern erfunden (Pietschmann). Wenn wir „tatsächlich“ Fieber haben, fragen wir, was der Auslöser war. Wir werden zwar keinen finden, aber vielleicht haben wir drei Tage zuvor ohne Mantel den Müll rausgetragen. Und schon haben wir eine Ursache erfunden.

Es folgte das Jahrhundert der Aufklärung, das Pietschmann aber das Jahrhundert der Mechanik nennt. Die Aufklärung verkündete auch nicht das Ende der Religion, sondern das Dämmern einer neuen Religion. So schrieb der große Aufklärer Voltaire 1732 an Maupertius: „Ihr Erster Brief hat mich auf die neue Newtonsche Religion getauft, Ihr zweiter hat mir die Firmung gegeben. Ich bleibe voller Dankt für Ihre Sakramente. … Ich werde auf ewig Ihre Briefe bewahren, sie kommen von einem großen Apostel Newtons, des Lichts zur Erleuchtung der Heiden.“

Pubertierende bekämpfen vehement das Alte – meist mit denselben alten Mitteln. William Thomson (Lord Kelvin) bekannte: „Ich bin erst dann zufrieden, wenn ich von einer Sache ein mechanisches Modell herstellen kann. Nur dann kann ich sie verstehen.“ So bockig kann nur ein Pubertierender sein.

Was folgte, war wie die Pubertät der Menschheit, ein Übergang. Und bekanntlich haben Pubertierende eine eigene Sprache. Die neue Physik verwendet nicht mehr den Begriff „Kraft“, sondern „Energie“. Damit wurde der Kraft die letzte Lebendigkeit ausgetrieben, die nicht in den (pubertären) mechanistischen Denkrahmen passt. Energie ist rein materiell, und der Weg war frei für ein reduziertes Weltbild: Materie ist das einzig Existierende. Das Lebendige ist nur Fantasie.

Pubertäre Gottesbilder

Was hat das alles mit Religionspädagogik zu tun? Es ist der Versuch, die Biografie der Jugendlichen in einen allgemein menschlichen Rahmen zu stellen. Die Menschheit ist weit davon entfernt, rational zu denken, rational ist sie nicht einmal in der sogenannten Aufklärung.

Ludger Verst: „Bilder von „Gott“ entstehen bereits in den ersten Lebensjahren. Kinder ‚denken‘ in Bildern und Symbolen. Bis etwa zum 6. Lebensjahr ist ihr Denken anschaulich bestimmt. Vor dem Gottesgedanken steht also das Gottesbild. Das Gottesbild ist eine schöpferische Leistung des Kindes. Das Kind begreift: Gott gibt es, aber man kann ihn nicht sehen.“

Die Frage (der Pädagogik) ist: Wie kann der Übergang von der Anschaulichkeit zur Unanschaulichkeit der Wirklichkeit gelingen, ohne dass das Gemeinte verloren geht? Wie oben beschrieben, war die Naturwissenschaft ein erster Schritt heraus aus der Anschaulichkeit, indem sie eine „objektive“ Welt konstruierte und der Lebenswelt gegenüberstellte. Diese konstruierte objektive Welt ist aber zum allgemeinen Weltbild, und damit zur künstlichen Lebenswelt geworden, in der sich auch die heutigen Jugendlichen befinden. Der Übergang muss also IN dieser Welt gelingen, in der nur das Materielle real ist.

In dieser Welt ist „Gott“ eine leere Metapher. Die Aufgabe ist vielmehr, diese Welt der toten Materie wieder zu verlebendigen. Die Frage nach GOTT ist uncool, und viel wichtiger ist auch die Frage: Was ist LEBEN? Schon für diese Frage ist die Hürde hoch. Interessant wäre aber schon die Frage: Was ist WELT?

Also zurück zum „Weltbild“ der Physik. „Welt ist doch so viel mehr als Teilchen in Raum und Zeit“, stellte der Physik-Nobelpreisträger Erwin Schrödiger fest. Es gehört auch dazu, was der naturwissenschaftliche Denkrahmen ausschließt: das Lebendige, Einmalige, Kreative usw. Das könnte den Raum eröffnen für eine Diskussion mit den Jugendlichen.

Aber die Geschichte der Physik war Ende des 19. Jahrhunderts nur scheinbar zu Ende. Lord Kelvin und auch der Lehrer von Max Planck rieten vom Studium der Physik ab, weil da schon alles erforscht wäre. Doch ausgerechnet letzterer läutete ein neues Zeitalter ein. Die Quantenmechanik stellte die gesamte Physik auf den Kopf, und – besonders wichtig – sie zeigte, dass der europäische Denkrahmen nicht einmal imstande ist, die Materie zu erklären. Die Physik ist nicht mehr deterministisch, die Kausalität wird durch Wahrscheinlichkeit abgelöst, die Welt ist zwar mathematisch, aber nicht mehr physikalisch widerspruchsfrei zu erklären. Was dadurch bedingt ist, dass die Physik die anschauliche Welt hinter sich gelassen hat und versucht, den unanschaulichen Mikrokosmos zu erklären. Eindeutigkeit gibt es auch in der Physik nicht mehr.

„Das Kind begreift: Gott gibt es, aber man kann ihn nicht sehen.“

Wie kommt es aus diesem Widerspruch heraus? Wir brauchen z.B. ZWEI anschauliche und widersprüchliche Bilder (Teilchen und Welle), um EIN Phänomen (Elementar-teilchen) zu erklären. Grob und nicht ganz richtig könnten wir sagen: Teilchen ist das, was man sehen kann, Welle nicht. Und doch ist es dasselbe. Außerdem ist die Frage, ob es diese Teilchen GIBT, nicht mehr zu beantworten. Ein Elementarteilchen IST nicht, sondern WIRKT. Es ist überhaupt nur in WECHSELWIRKUNG. So wie auch der Mensch nicht IST, sondern WIRD, und das nicht als isoliertes Ich, sondern nur in BEZIEHUNG.

Gibt es mich als „anschauliches“ Ich überhaupt? Oder braucht es etwas Unanschauliches, nämlich Beziehung, um zu sein? Wir kamen durch Beziehung in diese Welt, und wurden durch Beziehung (Mutter, Eltern, Umgebung) zu dem, was wir sind. Niemand ist ohne Beziehung lebensfähig. In Japan ist dieses Dazwischen, diese Beziehung wichtiger als Ich und Du. Und jetzt kommt ausgerechnet die Physik daher, und muss feststellen, dass in es der Mikrowelt keine Dinge oder Objekte gibt, sondern nur Beziehung – und zwar nicht Beziehung von etwas, sondern nur Beziehung (Hans-Peter Dürr). Die Frage, was gibt es, verliert an Bedeutung.

Und am anderen Ende der Skala: In Gott sind nicht drei Personen, sondern Gott ist reines Beziehungsgeschehen. So erklärt die Theologie die Trinität. Und: „Einen Gott, den es gibt, gibt es nicht!“ (Dietrich Bonhoeffer).

 

© 2018 R. Harsieber

Foto: RH

Die Notwendigkeit, Gesetze zu übertreten

Italienern oder Südländern, die zum ersten Mal nach Österreich oder Deutschland kommen, fällt vor allem eines auf: Menschen, die um 2.00 Uhr in der Nacht – kein Auto weit und breit in Sicht – vor einer roten Ampel stehen und geduldig warten, bis sie sich endlich erbarmt und auf grün schaltet. Je nach Temperament sind die Beobachter solcher Szenen irritiert oder lachen sich zu Tode.

Volke Tegetthoff erzählte beim 3. C.G. Jung Symposium, Oktober 2018 in Bruck an der Leitha unter anderen folgende Geschichte:

DSC_0306[1]Ein Schüler hatte sehr lange bei seinem Meister gelernt und sollte nach einer letzten Prüfung ins Leben entlassen werden. Der Meister stellte ihm folgende Aufgabe: Er zeigte ihm einen Vogelkäfig und verlangte vom Schüler, den Vogel, der nicht und nicht sang, mit dem, was er bei ihm gelernt hatte, zum Singen zu bringen. Nur eines war ihm verboten: Er durfte die Käfig-Tür nicht öffnen. Dann ließ er ihn mit dem Vogel allein.
Der Schüler versuchte alles, er gab ihm zu fressen und zu trinken. Der Vogel sang nicht. Er erzählte die schönsten Geschichten, der Vogel sang nicht. Er sang ihm alle Lieder vor, die er kannte. Der Vogel sang nicht. Erschöpft wusste er nicht mehr weiter.
Da kam der Meister zurück, sah die Bescherung, schüttelte den Kopf und sah ihm tief in die Augen. „Du hast nichts gelernt. Du hat überhaupt nichts gelernt.“ Der Meister ging zum Käfig, öffnete die Tür, der Vogel flog ins Freie und sang voll Freude. „Aber Meister“, antwortete verdattert der Schüler, „gerade das hast du mir ja verboten!“
„Du hat nichts verstanden“, wiederholte der Meister. „Mit dem Verbot habe ich dir doch schon den Hinweis gegeben, wo die Lösung zu finden ist. Du aber hast das Gesetz über die Empathie und das Leben gestellt. Nichts hat du verstanden!“

Manchmal ist es sogar notwendig, das Gesetz zu ignorieren.

Auch in der Bibel gibt e ähnliche Erzählungen. Etwa als die Jünger am Sabbat die Kornähren aßen, und Jesus erklärt: „Der Sabbat ist für den Menschen da, nicht der Mensch für den Sabbat.“ (Mk 2,23-28). Oder als einige der Jünger ihr Brot mit ungewaschenen Händen aßen. (Mk 7,1-15).

Manchmal muss man die wörtliche Aussage eines Gesetzes übertreten, um seinen Sinn zu erfüllen.

In den 1970er Jahren war ich in einer Yogagemeinschaft. Es war dort strikt verboten den Ashram mit Schuhen zu betreten. Doch einmal erzählte der Swami, das er selbst als Schüler einmal den Ashram bewusst mit Schuhen betreten hatte, um zu sehen, wie es sich anfühlt, das Gesetz zu übertreten.

Wer keine Vorstellung davon hat, wie es ist, ein Gesetz zu übertreten, der kann es auch nicht bewusst und selbstbestimmt halten.

Ethik kommt von innen
Wir lernen, was gut und was schlecht ist, zunächst von den Eltern, Lehrern, Vorgesetzten usw. Nach Freud bauen wir damit ein Über-Ich auf. Die Formel dafür: MAN tut dies, oder man tut jenes nicht. Es gibt Menschen, die ein Leben lang danach leben und sich für moralisch halten. Doch das hat nichts mit Moral zu tun. Die Intention kommt nicht vom Ich, sondern von außen. Moral heißt, ein Ich aufzubauen und aus diesem Ich heraus, aus eigener Überzeugung selbstbestimmt zu handeln. Wer das Richtige tut, nur weil „man“ es so macht, ist eigentlich unmoralisch, auch wenn er sich richtig verhält. Ethisch sind nur die eigenen Überzeugungen, nicht von außen übernommene Moralvorstellungen. Ethik kommt von innen, nicht von außen.
Ein starkes Über-Ich ist immer verbunden mit einem schwachen Ich, eine labile Situation, die leicht kippen kann. Etwas Unvorhergesehenes im äußeren Leben, oder aufbrechende unbewusste Tendenzen können unberechenbare Reaktionen auslösen, die nicht mehr durch das Über-Ich reguliert werden können. Im Extremfall führt das zu Verbrechen, die ein Mensch begeht, den die Nachbarn als netten und biederen Menschen beschreiben.

Ein starkes Über-Ich verhindert, sich mit dem eigenen Schatten zu beschäftigen. Aus irgendeinem Auslöser mit diesem Schatten konfrontiert, ist man ihm hilflos ausgeliefert, und alle Über-Ich „Moral“ kann zusammenbrechen.

Alle obigen Erzählungen handeln davon, dass ein zu starkes Über-Ich die spontane Lebendigkeit verhindert. Daher ist es unter Umständen wichtig, auch einmal Gesetze bewusst zu übertreten. Damit richtet sich der Fokus auf das Ich, und vom äußeren Wortlaut weg auf den inneren Sinn von Gesetzen. Erst dadurch wird bewusstes, selbstbestimmtes ethisches Handeln möglich.

Männliches und Weibliches

Mann&Frau2Im Billrothhaus in Wien fand Mitte Oktober eine Fachtagung „Mann & Frau“ statt. Veranstalter waren die Sigmund Freud Privat Universität Wien, das Institut für Ehe und Familie (IEF) und das Institut für Religiosität in Psychiatrie und Psychotherapie (RPP).

Das 19. Jahrhundert war vom Biologismus geprägt, Mann und Frau wurden nur durch die Brille des „kleinen Unterschieds“ gesehen, im Wesentlichen die primären Geschlechtsorgane. Dass dies eine naive Verkürzung der Situation war, ist nicht zu leugnen, und daher kam es im 20. Jahrhundert zur Gegenbewegung des Genderismus. Die Biologie ist bedeutungslos, es lebe die soziale Differenzierung und Beliebigkeit. Gegenbewegungen kommen immer überspitzt daher, sonst würden sie nicht wahrgenommen, so Raphael Bonelli (der auch ein Buch zum Tagungsthema veröffentlicht hat). Aber auf These und Antithese folgt die Synthese im 21. Jahrhundert in der Gender-Medizin. Diese hat die Unterschiede im Männlichen und Weiblichen entdeckt, die bis ins Hirn und in jede Zelle des Körpers reichen, und sie hat keine Berührungsängste mit dieser Diversität. Es ist aber auch klar, dass soziale Prägungen hinzukommen, die man sich ebenfalls genau anschauen und notfalls in vernünftige Bahnen lenken muss. Bonelli kennzeichnet die drei Phasen als Geschlechter-Narzissmus (19. Jhdt.), Geschlechter-Konkurrenz (20. Jhdt.) und Geschlechter-Ergänzung (21. Jhdt.). Seine Take-Home-Botschaft: Mann und Frau sind verschieden, ergänzen sich aber wunderbar.

Wer symbolisch denken kann, ist dabei eindeutig im Vorteil. Da geht es nämlich um das Prinzip Männlichkeit und Weiblichkeit, das in unterschiedlicher Ausprägung bei Mann und Frau vorkommt. Das beginnt bei den Hormonen im männlichen und weiblichen Körper, wie die Gynäkologin Doris Gruber in ihrem Vortrag „Die Biologie des Liebeslebens“ ausführte. Das wirkt sich natürlich im sozialen Bereich aus, führt nicht nur zu geschlechtsspezifischen psychosozialen Krisen (Beate Wimmer-Puchinger), sondern auch dazu, dass Frauen die längste Zeit aus der Wissenschaft ausgeschlossen waren und es immer noch schwer haben.

Raphael Bonelli präsentierte neueste Studien zur Geschlechterdifferenz bis hin zu Unterschieden im Gehirn und der unterschiedlichen Lösung von Aufgaben. Dass der genetische Unterschied zwischen Mann und Frau gerade mal 1.5 Prozent ausmacht und laut das 20. Jahrhundert überlebenden Genderfanatikern vernachlässigbar sei, entkräftet er damit, dass auch der genetische Unterschied zwischen Mensch und Affe 1,5 Prozent beträgt. Also irgendwas muss an den 1,5 Prozent doch dran sein. Außerdem verhalten sich Mädchen als Mädchen und Buben als Buben, noch bevor sie selbst den Unterschied kennen. Männer sind tendenziell funktional-sachbezogen, Frauen beziehungsorientiert-personenbezogen, und das schon unmittelbar nach der Geburt. Auch das Gehirn ist männlich oder weiblich. Männer lösen Aufgaben vorwiegend mit der grauen Substanz (Nervenzellkörper), Frauen mit der weißen Substanz (Nervenfasern, Leitungsbahnen, Verbindungen). Männer denken linear und fokussiert, Frauen vernetzt und assoziativ.

Kränkungen – Angst vor Liebesentzug
In einer nicht funktionierenden Partnerschaft – wie im Leben überhaupt – geht es sehr oft um Kränkungen. Der Psychiater Reinhard Haller begann bei Kain und Abel, der Urerzählung der Kränkung, und spannte den Bogen bis zum aktuellen Terrorismus, der auf einer Kränkung beruht und sich gegen die „heile Welt“ richtet, an der die Protagonisten nicht teilhaben können. Heute häufen sich auch die Fälle, wo jemand tabula rasa in der Familie macht, oder die Schulmassaker, die oft auf einer an sich kleinen Kränkung beruhen, die aber ein Fass zum überlaufen bringen. Diese Kränkungen sind nur äußerlich Kleinigkeiten, innerlich sind sie furchtbar. Kränkungen sind eine nachhaltige Erschütterung des innersten Selbst und seiner Werte, die Urangst dahinter der Liebesverlust, die Angst, nicht geliebt zu werden. Wobei Kränkungen immer einen wahren Kern haben.
Eine radikale Form ist die Demütigung, die einem den letzten Mut raubt. Viele große Kriege begannen mit einer Demütigung. So der Erste Weltkrieg mit der Ermordung des ohnehin unbeliebten Thronfolgers, das Ergebnis waren Millionen Tote. Hitler versprach einem gedemütigten Volk die endgültige Lösung.
Die Beleidigung ist die staatlich anerkannte Form der Kränkung, die sonst weder in der medizinischen oder psychiatrischen Ausbildung, noch irgendwo im Rechtssystem vorkommt. Interkulturell heikel ist der Ehrbegriff, der in anderen Kulturen eine ganz andere Bedeutung hat als bei uns. Die Blutrache zieht oft eine Spur über Jahrhunderte hinweg. Verbitterung ist die unheilbare Form der Kränkung. Mobbing kann man als die systematische Kränkung betrachten.
Die Wurzel aller Kränkungen ist die Angst vor Liebesverlust, daher ein zentrales Thema in einer Partnerschaft. Liebe ist auch die Positivresonanz der wichtigsten Person im Leben. Sehr oft kommt es zur Enttäuschung, die sich gegen sich selbst richtet, weil dem ja eine Täuschung vorangegangen ist. Fehlendes Lob oder Nichtbeachtung ist eine permanente Kränkung. Oft endet das im Schweigen, Ausdruck tiefen Getroffenseins, aber auch großer Aggression. Partnerschaft ist oft auch ein Machtkampf, die Lösung kann darin liegen, sich in den anderen hineinzuversetzen.
Die heutige Gesellschaft ist geprägt von einem zunehmenden Narzissmus, wobei dieser nicht Eigenliebe ist, sondern Eigensucht. Ein Narzisst saugt Lob und Bewunderung auf, wertet andere ab, zu Liebe und Empathie ist er nicht fähig. Daher die zunehmende Kälte und Entsolidarisierung der Gesellschaft.

Der Mythos von Mann und Frau
Das theologische Verhältnis von Sexus, Eros und Agape erläuterte Joseph Spindelböck, wobei man sich gewünscht hätte, dass er den Kirchensprech in eine Sprache übersetzt hätte, die die Menschen heute verstehen. So kamen eher die Probleme der Kirche als die von Mann und Frau zur Sprache.

Die Theologin und Philosophin Hanna Barbara Gerl-Falkovitz brachte gewohnt virtuos die geheimnisvolle Spannung zwischen Mann und Frau im interkulturellen Kontext zur Sprache. In Indien, wo Ehen von den Eltern gestiftet werden, ist die Hochzeitsnacht kein Akt personaler Liebe, sondern ein sakraler Vollzug der Weltschöpfung. Shiva und Shakti sind die Symbole des Männlichen und Weiblichen. Wobei das Männliche Prinzip Ruhe, Sein und Ewigkeit ausrückt, das Weibliche Zeit, Energie und Dynamik. Der Geschlechtsakt drückt das Prinzip des Daseins, das Geheimnis des Ganzen aus.
In China ist der Kaiser für den Tag, die Kaiserin für die Nacht zuständig. Er regelt die Geschicke des Staates, ist zuständig für das Ganze, sie muss eigentlich nur da sein. In Persien, beim Schachspiel, tut der König nichts, die Dame kämpft. Mythologisch ist Männliches und Weibliches scheinbar austauschbar. Allerdings muss man auch sehen, dass im Asiatischen Ruhe nicht Passivität, sondern höchste Energie bedeutet.

Im Mythos, so Gerl-Falkovitz, ist die Frau das Abenteuer des Mannes, das der Mann zu lösen hat, indem er meist drei Aufgaben erfüllen muss. So fordert Brunhilde den Helden zum Dreikampf heraus, bei dem sie sich als die Stärkere erweist, aber er sie dennoch mit List besiegt. Erst dadurch kommt eine Beziehung auf Augenhöhe zustande. Bei Wagner fügt das Schicksal einen Keil zwischen die beiden. Nach der Ermordung Siegfrieds verbrennt sie sich gemeinsam mit ihm auf dem Scheiterhaufen in einer endgültigen Ehe.
In der Bibel ist Eva kein Name, sondern bedeutet Leben schlechthin, die Unergründlichkeit des Lebens. Bezeichnend auch im Mythos, dass die Frau keinem Zwang unterliegt, sie kann auch 1000 Jahre warten. Sie ist bleibendes Geheimnis, lockende Andersheit. Beziehung ist immer ein Hinausgehen aus mir selbst. Diese bleibende Fremdheit führt in letzter Konsequenz zur Andersheit, die zum Wesen Gottes gehört. So ist die menschliche Geschlechtlichkeit letztlich die Durchsicht auf Gott. So kann Erotik zum „Fenster in die Differenz in Gott werden, ohne dass Gott Mann und Frau wäre.“

Theodizee, Holocaust und Verantwortung

Dieser Tage ist Johann Baptist Metz 90 Jahre alt geworden. Abgesehen davon, dass er ein charismatischer Lehrer war, hat er eine der brennendsten Fragen seiner – und unserer -Zeit gestellt: die alte Frage, wie Gott das zulassen kann, oder in der heutigen Form: Wie ist Theologie, wie ist Religion nach Auschwitz überhaupt noch denkbar?

Die bürgerliche Religion, in die sich die meisten Religiösen wieder zurückgezogen haben, während die anderen sich überhaupt abwandten, ist nicht mehr möglich. Der gute Gott, der alles lenkt und beherrscht, ist zur Blasphemie geworden. Das kann man einem Gott nicht (mehr) unterstellen. Die süßliche Religion ist nicht mehr glaubwürdig, sie ist sogar abschreckend und ein wesentlicher Grund dafür, dass sich viele abwenden und Atheisten oder Agnostiker werden.
Ebenso werden die mit Klauen und Zähnen verteidigten konfessionellen Grenzen hinfällig und einfach nur lächerlich. Alle Streitpunkte verblassen, wenn es um das Wesentliche geht. Ökumene kann doch nicht darin bestehen, die Vielfalt zu nivellieren, sondern nur darin, sich endlich auf das Wesentliche zu konzentrieren.

Wie konnte Gott den Holocaust zulassen?

Es ist zuallererst die Frage, wie wir uns „Gott“ vorstellen. Im Alten Testament steht noch: Du sollst dir kein Bild machen! Und doch: Auf dem Weg durch die Wüste (des Lebens) haben die Israeliten (wir) sich ein goldenes Kalb gegossen, das sie anbeteten, weil sie vom Gott des Mose keine Vorstellung hatten und haben konnten. In vielen Kirchen finden wir noch den alten Mann mit weißem Bart. Eigentlich eine Häresie.
Religiöse Schriften – für Christen das Alte und Neue Testament – handeln nicht von Gott, sondern vom Menschen und seiner Beziehung zum Unendlichen. Das oft in gleichnishafter und symbolischer Sprache, die wir heute trotz Tiefenpsychologie nicht mehr verstehen. So lesen wir die Schriften als Schriften über Gott. Damit brauchen wir uns nicht um die menschlichen Tragödien zu kümmern. Es ist eine einzige Projektion. Nicht die Schriften, sondern unsere Lesart. So gesehen ist bürgerliche Religion, ist die übliche Lesart der Bibel verantwortungslos.
In dieser Lesart verdrängen Christen am liebsten das ganze Alte Testament, weil es ja an manchen Stellen so grausam ist. Dabei ist das bloß Realismus. Es war der Mörder Mose, der die Israeliten aus der inneren Abhängigkeit befreien und die innere Wüste in Beziehung zum Unendlichen bringen wollte. Und dann ein symbolisches Bild, das eigentlich Kern des Christentums sein sollte: Die Israeliten werden als Folge ihres Verhaltens reihenweise von Schlangen gebissen und sterben. Doch Mose findet – mit Hilfe des Unendlichen – auch dafür eine Lösung: Er machte eine Schlange aus Kupfer und hängte sie an einer Fahnenstange auf. Jeder, der von einer Schlange gebissen wurde, blieb am Leben, wenn er zu der Schlange aufschaute (Num. 21,4-9).
Die Schlange als Symbol des Bösen ist auch das Symbol des Heils. Die erhöhte Schlange ist auch der erhöhte Heiland. Goethe drückte das im Faust so aus: „Ich bin der Geist, der stets verneint, ein Teil von jener Kraft, der stets das Böse will und stets das Gute schafft.“ Um heil (ganz) zu werden, reicht eine süßliche Religion nicht aus. Das Negative will gesehen und umgewandelt werden. Es abzuspalten – wie es die Kirche getan hat und tut – ist der falsche Weg. Ins Unbewusste verdrängt, wächst seine Kraft und bricht irgendwann hervor. Schlimmer als je zuvor.
Nach der schier unfassbaren Verhöhnung des Humanen durch Auschwitz ist eine Verherrlichung Gottes, der „alles so herrlich regieret“, nicht mehr möglich. J. B. Metz: „Wir Christen kommen niemals mehr hinter Auschwitz zurück; über Auschwitz hinaus aber kommen wir, genau besehen, nicht mehr allein, sondern nur noch mit den Opfern von Auschwitz.“ Wir können von Gott nicht reden, ohne das größte Übel mit hinein zu nehmen – auch wenn das völlig irrational ist. Im Absoluten ist Rationales und Irrationales eins, weil es weder das eine, noch das andere ist, sondern ganz was anderes. Aber darüber können wir nichts sagen.
In der Bildersprache religiöser Schriften: Der Gott des Mose ist unvorstellbar. Selbst in der Beziehung („Offenbarung“) sagt er nichts als „Ich bin“. Alles andere wäre bereits menschliche Vorstellung. Als Wesen der Endlichkeit brauchen wir allerdings unsere goldenen Kälber, müssen allerdings aufpassen, dass wir nicht von den Schlangen gebissen werden, die die Entwicklung des Menschen in Gang gesetzt haben. Teilhard de Chardin würde, wie Sri Aurobindo von Involution und Evolution sprechen.
Die europäische Kulturgeschichte beginnt schon in der Antike mit der Vorstellung vom Sein (Parmenides) und Werden (Heraklit). Diese beiden (statische und dynamische) Weltbilder ziehen sich durch die Geschichte, und das statische Weltbild gewann mit der Naturwissenschaft und dem daraus entstehenden Weltbild der „modernen“ Gesellschaft die Oberhand. Doch sogar die Physik kommt am Ende zu der Ansicht, dass beide Sichten notwendig sind. Teilchen (Statik) und Welle (Dynamik) sind eins (Feld). Wir brauchen die Gegensätze, um die Wirklichkeit komplementär zu beschreiben. Das Aristotelische Entweder-Oder hat nach zweieinhalb Jahrtausenden ausgedient. Sogar die physikalische Welt (die sich als Methode von der geistigen Welt losgesagt hat) ist im Innersten ganz und eins. Es gibt nur das Ganze, es gibt keine Teile, obwohl wir darüber reden müssen.
Schwieriger ist es, wenn es nicht um Sein oder Nicht-Sein geht, sondern um Gut und Böse. Wir müssen annehmen, dass auch dieses Gegensatzpaar komplementär zusammengehört. Dass das Positive nicht denkbar ist ohne das Negative. Das ist genauso unvorstellbar wie Teilchen und Welle als ein Quantenphänomen. Es gibt da nur einen Ausweg: Unser Weltbild ist ein zutiefst statisches, die Dynamik fehlt völlig. In diesem statischen Weltbild ist Komplementarität nicht vorstellbar. Wir müssen also lernen, dynamisch und ganzheitlich zu denken.
Die Quantenphysik ist voll mit völlig verrückten Ideen, die sich dann als richtig erwiesen. Ebenso verrückt erscheint ein Satz von Leibniz: Diese Welt ist die beste aller Welten. Aus der statischen Teilchensicht ist das Unsinn. Aber Leibniz lebte am Beginn der Naturwissenschaft, hat aber das statische Weltbild nicht mitgemacht. Seine Philosophie ist Dynamik. Die Welt ist deshalb die beste aller denkbaren Welten, weil sie entwicklungsfähig ist.
Naturwissenschaft und Religion stehen heute deshalb so unversöhnlich gegenüber, weil auch die Religion ein dynamisches Weltbild vertritt, das vom statischen Weltbild der Gesellschaft nicht mehr verstanden wird. Es geht nicht um Gott oder das Sein, sondern um den Menschen und sein Werden. Vom statischen Denken widerspricht sich die Bibel laufend. Vom dynamischen Denken korrigiert sie sich ständig, weil der Mensch in Evolution ist. Die Bibel ist auch insofern unlogisch (bezogen auf die aristotelische Logik), weil sie die Gegensätze nicht eliminiert, sondern bestehen lässt, weil sie komplementär zusammengehören.
Und wenn eine süßliche Religion nach Auschwitz nicht mehr möglich ist, wenn der Gott, der alles in seiner Güte lenkt und steuert, tot ist (Nietzsche), dann wirft uns das zurück auf das, was Religion wirklich ist: Menschsein als Entwicklung zu sehen, was C.G. Jung als Individuation bezeichnet hat. Diese Entwicklung ist nicht von einem Gott gesteuert, wir sind ja keine Marionetten, sondern sie liegt in unserer eigenen Verantwortung. An Gott zu glauben oder nicht, ist nicht das Entscheidende. Es bleibt dabei ohnehin offen, woran man da glaubt oder nicht glaubt. Es geht einzig und allein darum, die Verantwortung für das eigene Sein und vor allem Werden zu übernehmen.
Um es drastisch zu sagen: Viele, die man als konservative Fundamentalisten bezeichnet, sind diejenigen, die ihr inneres Auschwitz leben. Die glauben, die Wahrheit zu besitzen und alle anderen der Lüge bezichtigen, für die alle anderen Religionen und sogar Konfessionen Teufelswerk sind. Diesen inneren Gesinnungs-Holocaust müssten wir heute überwinden. Verantwortliche Entwicklung schließt das innere und äußere Fremde mit ein.

Gedanken zu den „Wortkörpern“ von Johann Berger

32202744_2403905552960308_6426007451253866496_nAm 24. Mai 2018 wurde im traditionsreichen Palais Strozzi in Wien, organisiert vom „Complexity Science Hub Vienna“, einem Institut, das sich der Komplexitäts-forschung widmet, die Ausstellung „Wortkörper“ von Johann Berger eröffnet – ebenso gelungen wie spannungsgeladen. Innovative Wissenschaft in einem traditionsreichen Gebäude präsentiert ebenso innovative Kunst, die auf antike Begriffe rekurriert.

DSCN4650_webBerger unternimmt etwas, das es bislang nicht gegeben hat. Er nimmt Begriffe aus dem Griechischen und Hebräischen, nimmt den Buchstaben das Nacheinander, setzt sie hintereinander und entwickelt daraus eine buchstäblich begreifbare Form. Im Innenhof des Gartenpalais steht außerdem noch etwas erstmals Realisiertes, ein Objekt, das als 3D-Druck aus Beton entstanden ist, aus der Entwicklungsabteilung des Bauunternehmens Baummit.

Kunst wird dann bedeutsam, wenn sie beim Betrachter das Innere anrührt und/oder zum Denken anregt. Dazu fordert die doppelte Spannung zwischen Tradition und Innovation geradezu heraus.  Man kann sagen, dass bereits Aristoteles die komplexe Natur zu erschließen versuchte. Der kulturelle rote Faden reicht bis zur Naturwissenschaft, die aber lange Zeit eine Theorie einfachster Systeme war. Erst in heutiger Zeit versucht man, der Komplexität der Natur gerecht zu werden.

Johann Berger nimmt antike Begriffe in griechischer und hebräischer Schrift, und setzt die Worte dreidimensional in den Raum, so dass sie buchstäblich begreifbar werden. Damit passiert etwas, das es bisher noch nicht gegeben hat, das aber auch der heutigen Verwendung von Worten einen Spiegel vorhält. Wir wollen „begreifen“, wir definieren, d.h. wir grenzen den Begriff ein. Dass dadurch nicht nur etwas klarer wird, sondern auch etwas verloren geht, kommt uns nicht mehr in den Sinn.

 

In der Antike waren die Sprachen bildhafter und weniger begrifflich als heute. Auch eine klare Bedeutung war mehrdeutig. So war das hebräische Wort für „Vater“ auch das Wort für „Ursprung“. Letzteres geht verloren, wenn Fundamentalisten es nur mehr anthropomorph als „Vater“ verwenden. Zudem erleben Worte einen Bedeutungswandel. Sprache ist lebendig und wandelt sich ständig. Wer heute an einen „persönlichen“ Gott glaubt, der glaubt so ziemlich das Gegenteil dessen, was damals darunter verstanden wurde. Persona war die Maske im griechischen Theater, die „Person“ (im heutigen Sinne) dahinter, der Schauspieler, blieb unsichtbar und verlieh der Maske das Leben, den Charakter. Als der Begriff der Trinität kreiert wurde, dachte man wohl mehr an drei Masken als an drei „Personen“.

Diese Mehrdimensionalität der (mehr bildhaften) Wortbedeutungen ist verloren gegangen. Selbst die hebräischen Buchstaben sind keine Zeichen, sondern Bilder, Symbole, die auch in Zahlen ausgedrückt werden können, wodurch ihre Bedeutung klarer und gleichzeitig vieldeutiger wird. Dies alles schwingt in Bergers „Wortkörpern“ mit, durch die paradoxe Situation, dass gerade durch das „festgestellte“ statische Objekt die ganze Kulturgeschichte mitschwingt. Dadurch wird ein Finger auf den wunden Punkt unserer Kultur gelegt, nämlich dass unsere Begriffe die Dimension der Zeit, ihren dynamischen, mehrdimensionalen und vieldeutigen Charakter verloren haben.

Das ist jedoch nicht nur der Sprache geschuldet, sondern dem vorherrschenden Weltbild, das ein zutiefst statisches ist, dem die Zeit, jegliche Dynamik, jegliche Entwicklung fremd ist. Das europäische Denken zerlegt die Welt in kleinste Teilchen, das Ergebnis sind ganz scharfe Standbilder, mit denen der dynamische Film der Wirklichkeit aber verloren ist. Der zweite Strang der europäischen Kultur, der schon bei Heraklit („Man steigt nicht zweimal in denselben Fluss“, „panta rhei“ = alles fließt) anklingt, spielt eine zunehmend unbewusste, verdrängte, inferiore Rolle. Nicht zufällig ist die Frage der Zeit für die heutige Leitwissenschaft Physik ein unlösbares Problem. Selbst das Zusammenfügen der Standbilder zu einem großen Ganzen ergibt immer noch keinen Film.

Es ist das Verdienst Johann Bergers, dass er durch seine „festgestellten“, materialisierten Formen auf die lebendige Tradition verweist, auf das Fließen, auch der Übergänge zwischen den Buchstaben. Der Betrachter wird angeregt, nicht nur den Prozess der Entstehung des Objekts, wie auch der ursprünglichen Worte mitzudenken, wodurch Verlorenes wieder lebendig werden kann.

 

„Die Kraft des Alters“

Am 16. Nov. 2017 wurde die Ausstellung „Die Kraft des Alters“ im Unteren Belvedere in Wien eröffnet. Das Interesse überstieg beinahe das Fassungsvermögen der Räumlichkeiten. Die Ausstellung ist bis 4. März 2018 zu sehen. Zu sehen sind insgesamt 174 Werke von 105 Künstlerinnen und Künstlern.

Eine Ausstellung zu diesem Thema gab es bisher noch nicht. Das Alter wird verdrängt, alte Menschen abgeschoben und versteckt. „Im Prinzip ist das Altwerden bei uns erlaubt, aber es wird nicht gerne gesehen.“ Mit diesem Zitat des Kabarettisten Dieter Hildebrandt begann die Kuratorin der Ausstellung, Sabine Fellner, ihre Einführung. Nicht Sichtbares sichtbar zu machen, war immer schon das Privileg der Kunst. Warum also nicht Künstler/innen zu diesem Thema befragen?

Belvedere_Ausstellung_Foto Johannes Stoll, c Belvedere Wien

Foto: Johannes Stoll, © Belvedere, Wien

Sichtbar wird, dass die Einstellung zum Alter sich wandelt. In früheren Zeiten und anderen Kulturen galt das Alter als ehrbar. Heute ist der weise Alte vergessen und an seine Stelle der senile Alte getreten. Von Stefan Zweig wissen wir, dass in der Zeit des Fin de Siécle Wiens Jugend als Karrierehemmnis galt. Wer es zu was bringen wollte, machte sich älter. Aber gegen sein Lebensende wunderte er sich, dass „Vierzigjährige alles tun, um wie Dreißigjährige auszusehen und Sechzigjährige wie Vierzigjährige“. Von dieser Wandlung der Einstellung leben heute die Mode- und Kosmetikindustrie sowie die Schönheitschirurgie. Auch die Medien leben von diesem Partisanenkrieg gegen das Altern, der mit „anti aging“ umschrieben wird. Das Alter wird nicht als natürlicher Lebensabschnitt gesehen, sondern  als etwas Pathologisches, das therapiert werden muss. In den USA gibt es heute allerdings bereits einen Trend gegen dieses „anti aging“. Denn Alter ist nicht nur Defizit, sondern auch Gewinn.

Tatsächlich herrscht aber noch der Jugendwahn. Schon das Erwachsenwerden ist suspekt, und das Alter beinahe nicht existent. Jedermann hat bis ins hohe Alter jugendlich auszusehen und jede Frau muss möglichst mit 40 aufhören zu altern oder wenigstens unsichtbar bleiben. Sabine Fellner stellt auch den Gegentrend, der heute schon zu beobachten ist, wenn über 70-jährige Models über den Laufsteg trippeln, infrage. Denn selbst die haben noch Jugendlichkeit auszustrahlen, womit sie genau das konterkarieren, was diese Ausstellung, wie Stella Rollig, die Generaldirektorin des Belvedere, erläutert, herausstellen will: dass Alter auch für Macht, Erfahrung, Lebensweisheit, Kontemplation, Würde, Lebenslust und Triumph über Konventionen steht.

Es ist die Kunst, die die Ästhetik des Alters und des Alterns ins Blickfeld rückt. Künstlerinnen wie Margot Pilz oder Martha Wilson stellen den Jugendwahn infrage, zeigen die Spuren des Lebens an Körpern mit Ironie und Ästhetik. Die Benachteiligung der Frau in Bezug auf das Alter wird in der Ausstellung thematisiert und infrage gestellt. Auch Frauen gewinnen im Alter an Persönlichkeit und Souveränität, bemerkt wird es meist nur bei Männern. So vermittelt ein Gemälde der amerikanischen Malerin Aleah Chapin die pralle Lebenslust im Alter: Frauen jenseits der 50, nackt, mit allen Falten, ergraut und ohne Beschönigung, aber in ihrer Stärke, Vitalität, Unabhängigkeit und Verbundenheit – eine neue Form der Schönheit jenseits des Klischees.

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Aleah Chapin, The Last Droplets Of The Day, 2015. Foto: Martin Url

Kunst zeigt auch die positiven Seiten des Alters: Man kann sich über frühere Zwänge hinwegsetzen, sich dem Wesentlichen zuwenden, Qualitäten entwickeln, die einem Jüngeren noch verborgen sind. Sexualität im Alter ist den Betroffenen kein Tabuthema, Defizite – besonders männliche – können durch eine neue Intensität ausgeglichen werden. Johannes Grützkes „Vier alte Männer von einer Frau durchwoben“ zeigen einen möglichen „Ausweg“, sich mit einer jungen Frau zu verjüngen, ein Weg, den umgekehrt auch selbstbewusste Frauen immer mehr beschreiten.

Belvedere_HeidiBleibt die Schattenseite des Alterns, das Thema Krankheit, das natürlich im Alter brisanter wird und sogar von der Kunst eher scheu abgehandelt wird. Hier sticht Heidi Harsiebers „X-Ray“ hervor, die den zur Strahlentherapie nach Brustkrebs vorbereiteten Körper in Kontrast zur sinnlichen Darstellung einer Hexenverbrennung stellt. Womit die Verbrennung und Strahlung tatsächlich in eine Kraft des Alters münden kann.

Heidi Harsieber, x-ray, 2001.
© Bildrecht, Wien, 2017

Das wirkt weit expressiver und explosiver als die Beschäftigung mit der immer noch ästhetischen Vergänglichkeit durch Egon Schiele , Gustav Klimt, Birgit Jürgenssen, Roman Opalka. Ein anderer Kontrast bildet das stille Leiden in Regina Hüglis Porträtserien von Demenzkranken.

Belvedere_TennesonDen Trend zur Ausmerzung der Spuren des Alterns nimmt Martha Wilson aufs Korn, indem sie Gesichter zeigt, die durch Schönheitsoperationen „optimiert“wurden, wodurch der Charakter eines Menschen, seine Identität, Individualität und Lebendigkeit gänzlich verloren geht. Die angebliche Schönheit besteht in einer Auslöschung des Lebendigen.

Das Gegenkonzept stellt Joyce Tenneson vor, indem sie in ihren Fotoarbeiten die Attraktivität und Würde des Alters darstellt.

Joyce Tenneson, Christine Lee, 2002. © Joyce Tenneson

 

Ein anderes Thema ist die zunehmende Einsamkeit im Alter. Auch die hat zwei Seiten: das zunehmende Leiden an der Einsamkeit und das Bedürfnis nach Einsamkeit (z.B. Elsa Spitzers „Frau mit Schirm“). Aber auch Verbundenheit und Beziehung ist – vielleicht sogar intensiver – immer noch Thema (Harry Weber: „Paar im Altersheim Lainz“), auch generationenüberreifend (Christine Turnauer: „Sybil Graburn und und Linda Mcnally, Mutter und Tochter“, Joseph Floch: „Frau Weiss und ihre Töchter Liese und Lene“, Claudia Schumann: display (ROSA)“).

Das Altern ist so vielschichtig wie das Menschsein und so widersprüchlich wie das Leben. Pablo Picasso (vertreten durch „Tableau de famille“) schaffte es, die Spannung des Themas in einem einzigen Satz zu kristallisieren: Man müsse schon sehr lange leben, „um jung zu werden”.

 

„Die Kraft des Alters“

bis 4. März 2018, Unteres Belvedere in Wien, täglich 10.00 bis 18.00 Uhr, freitags 10.00 bis 21.00 Uhr.

Dem Sterbenden begegnen

 

csm_DemSterbendenBegegnenklein-20_8b32fe726dDem Tabuthema Sterben und Tod widmete sich ein Symposium „Dem Sterben begegnen. Herausforderungen an Medizin und Pflege“, veranstaltet vom Institut für medizinische Anthropologie und Bioethik, IMABE Wien. Schon lange vorher ausgebucht, kamen zwei Drittel der Zuhörer aus dem Pflegebereich, ein Drittel aus der Ärzteschaft. Eine Frage bildete den roten Faden: Wie kann man den Tod, der aus der Gesellschaft hinausgedrängt wurde, wieder in die Gemeinschaft zurückholen?

Es gibt einen graviereImabe Symposiumnden Wandel in der Einstellung zum Sterben und zum Tod. Darüber referierte Univ.-Prof. Dr. Franz Kolland, Institut für Soziologie, Universität Wien. Bis etwa 1900 war es ein Leben mit dem Tod, der sich in einer sorgenden Gemeinschaft vor dem Hintergrund der Religion abspielte. Danach ging die Orientierung von Religion und Priestern immer mehr auf den Arzt über. Heute ist es auch nicht mehr der Arzt, sondern der Sterbende selber, der selbstbestimmt aus dem Leben gehen soll.

Das ist der Individualisierung geschuldet, auf die das System mit personzentrierter Pflege antworten muss. Wie alles hat auch das seine Schattenseiten, nämlich den Verlust der Zugehörigkeit, die früher Orientierung und Geborgenheit geben konnte. Das fällt heute weg. Die Über-Individualisierung geht Hand in Hand mit einer zunehmenden Vereinsamung. Früher starb man im Kreis der Familie, heute wird das Sterben an Institutionen ausgelagert. Die sorgende Gemeinschaft, in der man früher gelebt hat und auch gestorben ist, muss heute durch eine professionelle pflegende „Gemeinschaft“ ersetzt werden.

Allerdings stand und steht dem die „Gerontophobie“ (©Nikolaus Schneemann) der Ärzte entgegen, die sich rechtzeitig aus dem Staub machen (Johannes Bonelli), wenn der Sterbeprozess einsetzt. Der Sterbende wird irgendwohin abgeschoben, wo sein Sterben weitgehend unsichtbar bleibt. Dazu gehört auch eine Dämonisierung des Alters, das durch ein „positives Denken“ aus dem Horizont der Gesellschaft gedrängt wird. Der Tod kommt in der Gesellschaft nicht mehr vor.

Menschen sind leiblich, damit verletzlich, und daher füreinander verantwortlich – so fasst Prof. Dr. Martin W. Schnell, Philosoph, Direktor des Instituts für Ethik und Imabe SymposiumKommunikation im Gesundheitswesen, Univ. Witten/Herdecke, die menschliche Situation zusammen. Medizin und Pflege sind am Lebensende eines Patienten mit einer Asymmetrie konfrontiert, nämlich jener von Weiterleben vs. Sterben, der Diversität zwischen dem überlebenden Begleiter des Patienten und dem sterbenden Patienten selbst. Kommunikation braucht eine gemeinsame Bedeutungswelt, die am Lebensende zunehmend schwindet. Diese Asymmetrie stellt eine große Herausforderung für Palliative Care dar. „Man kann sich in den Sterbenden gar nicht hineinversetzen. Das muss man akzeptieren. Das heißt aber nicht, dass man ihn nicht gut begleiten kann“, betont Schnell. Er plädiert für eine möglichst frühe Auseinandersetzung mit Tod und Sterben in der Ausbildung.

Für Ärzte ist nicht der Tod das Thema, sondern das Sterben. Der Arzt kann mit Patienten umgehen, nicht mit Menschen, so Schnell: „Ärzte können Patienten helfen, nicht Menschen.“ Es hängt daher alles daran, sich mit dem eigenen Tod zu beschäftigen, oder sich dem zumindest anzunähern. In der dritten Person stirbt „ jemand“, das macht nicht betroffen. In der zweiten Person ist es ein bestimmter, nahestehender Mensch, in der ersten Person bin ich es selber, meine eigene Endlichkeit.

Interessant in diesem Zusammenhang sind zwei Projekte des Philosophen: „30 junge Menschen sprechen mit Sterbenden und Angehörigen“ und „30 Gedanken zum Tod“ sowie ein Lehrfilm des Interdisziplinären Zentrums für Palliativmedizin am Universitätsklinikum Düsseldorf: „Ich sehe dich“.

Als Onkologe ist das Sterben für Univ.-Prof. Dr. Günther A. Gastl, Universitätsklinik für Innere Medizin V, Innsbruck, etwas „Alltägliches“. Auch für ihn geht es dabei um Existenzielles. „In der modernen Medizin wird das Sterben als Endpunkt von akuten oder chronisch verlaufenden Krankheitsprozessen pathologisiert“, so Gastl. Doch der Tod sei weder ein medizinischer oder pflegerischer Gegenstand, sondern ein menschlicher. Vor allem gibt es Dinge, die sich am Lebensende nicht mehr lohnen, von denen man absehen sollte.

Dafür kommt etwas hinzu, das man die spirituelle Dimension nennen könnte. Mit dem Verschwinden der mittelalterlichen Ars moriendi, der Marginalisierung und Pathologisierung des Sterbens und der Verdrängung des Todes aus der Gesellschaft, ist auch die Spiritualität verschwunden. Dieses Vakuum erfordert die Entwicklung einer zeitgemäßen Ars moriendi. Die Betonung der Individualität steht dem gar nicht so sehr entgegen, auch Spiritualität ist individuell: „In seiner Spiritualität trinkt jeder aus seiner eigenen Quelle.“ (Bernhard von Clairvaux). Professionalität am Lebensende geht gerade nicht von starren Richtlinien aus, sondern muss auf das Individuelle jedes Menschen eingehen.

Imabe SymposiumDer Soziologe und „Querkopf“ Univ.-Prof. DDr. Reimer Gronemeyer, Uni Gießen, wies darauf hin, dass alles seine Schattenseiten hat, auch die Palliativmedizin. In den USA sterben 80 Prozent der Menschen in Hospizeinrichtungen – die alle börsennotiert sind. „Die Ars moriendi wird zu einem industrialisierten Projekt.“ Er sieht auch einen Wandel in der Hospizbewegung: „Aus der weiblich getragenen Hospizbewegung ist ein zutiefst männliches Projekt geworden“, mit der typischen Überregulierung und Professionalisierung.

Gronemeyer wetterte auch gegen die Patientenverfügung, bei der jemand vorgibt zu wissen, wie er zu einem späteren Zeitpunkt entscheiden wird. Der Soziologe bringt es auf die Formel: „Wenn ich dement bin, will ich keine künstliche Ernährung – selbst wenn ich es als Dementer will.“

Imabe SymposiumAuch Hilde Kössler, MMSc, Koordinatorin des Mobilen Palliativteams Baden und Zweite Vizepräsidentin der Österreichischen Palliativgesellschaft, wies darauf hin, dass heute so manches aus der Sicht der noch Lebenden gesehen wird, und nicht aus der Sicht der Betroffenen. So wird landauf, landab bedauert, dass heute überwiegend in Institutionen gestorben wird und nicht zuhause, wie es dem Wunsch der meisten entsprechen würde. Bei Befragungen steht aber dieser Wunsch gar nicht an erster Stelle, sondern viel weiter unten. Viel wichtiger ist es, die Schmerzen in den Griff zu bekommen. Solange das zuhause geht, ist das ok, im Ernstfall fühlen sich die Menschen dann doch in einer Institution sicherer. Dazu kommt auch das nicht zur Last fallen Wollen, das in dieser Frage kaum reflektiert wird. Beim „guten Sterben“ geht es jedenfalls nicht in erster Linie um den Ort, sondern um das Wie.

Es klang wie eine Zusammenfassung des Symposiums, wenn Hilde Kössler forderte: „Das Sterben muss wieder in die Gesellschaft hinein!“

Fotos: © IMABE/Florian Feuchtner

„Ganzheitliche Therapie und Salutogenese“

Mt hat und ausübt, der weiß, dass mit der Beherrschung der Methode nicht alles getan ist. Es bleiben Fragen: Was bedeutet ganzheitliches Denken? Was ist mein persönlicher Zugang? Wer ist dieser Mensch, dem ich meine Begleitung anbiete? Diese Fragen sind nur jenseits von Methoden, Diagnosen und Therapien zu beantworten, und dafür gibt es bisher keine eigene Ausbildung. Daher bietet der FH Campus Wien in Zusammenarbeit mit der Wiener Internationalen Akademie für Ganzheitsmedizin einen neuartigen Masterlehrgang „Ganzheitliche Therapie und Salutogenese“ an.

Von einem Paradigmenwechsel, von ganzheitlichem Denken und ganzheitlichen Methoden ist seit mindestens einem halben Jahrhundert die Rede, ohne dass wirklich geklärt wäre, worum es dabei geht. Komplementäre Methoden sind noch nicht per se ganzheitlich. Ganzheitlich ist nicht die Methode, sondern das Welt- und Menschenbild, der individuelle, ganz persönliche Zugang zum Patienten als ganzen Menschen.

Versucht man das zu definieren oder zu beschreiben, muss man einen Schritt hinter die Methoden zurückgehen. Dr. Gerhard Hubmann: „Ganzheitliche Denkweise ist der Ausdruck eines Weltbildes, das den Menschen wieder als Einheit von Körper, Geist und Seele in seiner Umwelt sieht und ihn in seiner Beziehung zur Natur wiederherstellt.“ Ganzheitlich ist nicht die Methode, sondern das Welt- und Menschenbild von Therapeut und Klient. Berücksichtigt wird das (naturwissenschaftlich) Messbare und das Nicht-Messbare, das Psychosoziale. Der Mensch kann nicht isoliert von seiner Umwelt gesehen werden, und es wird primär nicht eine Krankheit ausgetrieben, sondern ein komplexer natürlicher Zustand wiederhergestellt. Wichtig ist der individuelle Mensch mit seiner Beziehung zu anderen und zur Umwelt. Das schließt komplexe physiologische und psychologische Faktoren genauso ein wie Ernährung und Umwelteinflüsse, die therapeutische Kompetenz genauso wie die Gesundheitsvorsorge und Prävention. Basis ist die Fähigkeit des Organismus zur Selbstregulation und Regeneration.

Masterlehrgang „Ganzheitliche Therapie und Salutogenese“

Gerhard Hubmann ist Lehrgangsleiter des Masterlehrgangs „Ganzheitliche Therapie und Salutogenese“ am FH Campus Wien. Dieser steht allen gesetzlich anerkannten Gesundheitsberufen – von Medizinern und Apothekerinnen, über Psychologen und Psychotherapeutinnen bis hin zu Hebammen, Gesundheits- und Krankenpflegepersonen sowie gehobene medizinisch-technische Dienste offen. Eine solche Sicht kann die Spezialisierung und Fragmentierung „entschärfen“, die im Gesundheitssystem Vor-, aber auch Nachteile hat. „Der Masterlehrgang führt zusammen, was längst zusammengehört“, fasst Gerhard Hubmann zusammen.

Das kann man an den Modulbezeichnungen des viersemestrigen Lehrgangs ablesen: „Denk- und Rechtsgrundlagen der ganzheitlichen Therapie und Salutogenese“, „Ganzheitliche Systeme und Kulturen“, Behandlungs- und Beratungsstrategien und interdisziplinärer Dialog“, „Prävention und Salutogenese“, Praktische Anwendung der Methoden“, „Methodenspektrum“ sowie „Wissenschaft in ganzheitlicher Therapie und Salutogenese“.

Damit können die StudienteilnehmerInnen auf sozialpsychologischer Basis ihre Beratungs- und Kommunikationskompetenz erweitern und sich einen integrativen Ansatz aneignen. Um einen umfassenden Einblick in den menschlichen Organismus als komplexes System zu erhalten, setzen sie sich mit den Grundlagen aus Medizin und Naturwissenschaften sowie der Systemtheorie und -analyse auseinander. Dazu kommen Einblicke in die Kulturwissenschaften und in traditionelle ganzheitliche Gesundheitssysteme verschiedener Kulturen.

Ziel ist auch ein international vergleichbarer akademischer Abschluss und nicht zuletzt der Ausbau der Forschungskompetenz, um Wissenschaft und Forschung im Bereich der ganzheitlichen Gesundheitsberufe im internationalen Vergleich zu stärken.

 

Masterlehrgang „Ganzheitliche Therapie und Salutogenese“

https://www.fh-campuswien.ac.at/studiengaenge/gesundheit-master/ganzheitliche-therapie-und-salutogenese.html

FH Campus Wien in Zusammenarbeit mit der Wiener Internationalen Akademie für Ganzheitsmedizin

 

Lehrgangsleiter: Dr. Gerhard Hubmann

Organisationsform: berufsbegleitend, 4 Semester

Studienplätze: 20

Abschluss: Master of Science (MSc)

Lehrgangsbeitrag: 13.600 EUR (bei Einmalzahlung)

Bewerbung: https://bewerben.fh-campuswien.ac.at

Bewerbungsfrist für das Sommersemester 2018:  15. Dezember 2017

Information: Open House am 17. November 2017

 

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Gerhard Hubmann ist Lehrgangsleiter Ganzheitliche Therapie und Salutogenese, Allgemeinmediziner, Homöopath und langjähriger Förderer der Ganzheitsmedizin. Er leitet ein Therapiezentrum für Ganzheitsmedizin, ist Vizepräsident der Wiener Internationalen Akademie für Ganzheitsmedizin (GAMED) und Berater für Komplementärmedizin der Wiener Gebietskrankenkasse.

Projektionen rund um das Kopftuch

Obwohl die Psychologie des 20. Jahrhunderts kaum Spuren in den Köpfen der Gegenwart hinterlassen hat, ist doch vielen bewusst, dass die Fehler, die man an anderen abscheulich findet, meist die eigenen sind. Und dass man diese Tatsache Projektion nennt. Derzeit kann man wunderschön kollektive Projektionen beobachten, nämlich in der völlig unnötig hochkochenden Kopftuchdebatte.

Wer sich am Begriff „Islamophobie“ stört, kann auch das als kollektive Projektion sehen. Wer sich betroffen fühlt, ist der Projektion erlegen, denn die den Begriff verwenden, heißen nicht generell alles gut (sind also keine „Gutmenschen“), sondern tolerieren den Islam als Religion. Den Islamismus, Terrorismus und politischen Islam verurteilen sie genauso. Aber wer so projiziert, ist nicht mehr imstande, Fakten zu sehen – obwohl er immer den Begriff „Fakten“ im Mund führt.

Ein Lehrbeispiel ist der ominöse Kopftuch-Sager von Bundespräsident Alexander van der Bellen. Er wehrte sich dabei in einer Fragebeantwortung gegen die religiöse Überfrachtung (Projektion!) des Kleidungsstücks und meinte dann, wenn das so weiterginge (mit der kollektiven Projektion), dann müsse man irgendwann alle Frauen auffordern, Kopftuch zu tragen – aus Solidarität. Um das zu verdeutlichen, wies er darauf hin, dass in Dänemark die Menschen Judensterne trugen, aus Solidarität mit den Juden und um deren Deportation zu verhindern. Das ist KEIN Vergleich mit dem Antisemitismus, sondern ein Vergleich mit der Haltung der Solidarität, die damals die Menschen bewegt hat. Das zu unterscheiden überfordert anscheinend viele.

Für alle, die eine Übersetzung brauchen: BP VdB meinte, dass das Kopftuch ein Kopftuch ist. Und wenn es weiterhin für Projektionen missbraucht wird (von Inländerseite), dann braucht es drastische Bekundungen der Solidarität mit den Frauen, die aus verschiedensten Gründen Kopftuch tragen.

Es geht nicht an, eine Kultur unter Generalverdacht zu stellen, die Frauen zu unterdrücken. Fakt ist nur, dass es diejenigen, die wir unter dem Begriff „Islamisten“ zusammenfassen, tatsächlich tun. Das ist ein Missbrauch des Kopftuchs, der Frauen und des Islam!

Fakt ist auch, dass viele Musliminnen kein Kopftuch tragen. Auch unter diesen wird es solche geben, die sich unterdrückt fühlen, und solche, die es nicht tun. Fakt ist, dass viele Musliminnen es aus Gründen der eigenen Identität (die kann religiös begründet sein oder auch nicht), der Abgrenzung, des Protests oder was auch immer, tun. Und wer Augen hat, wird feststellen, dass es Musliminnen mit (sehr modischen) Kopftüchern gibt, die darunter hinaus sehr körperbetonte Kleidung tragen. Da sollte einem Inländer aufgehen, dass es sich einfach um eine andere Kultur und einen anderen Blick handelt.

Was hinter den Unterstellungen liegt

Wenn wir weggehen von der vordergründigen Argumentation, die in der Debatte immer etwas unterstellt (religiös, nicht religiös, Unterdrückung oder nicht…..), dann geht es ganz allgemein um das Thema Individuum und Gesellschaft oder Gemeinschaft. Der Mensch kommt aus der Symbiose (Mutter-Kind), entwickelt ein Ich (immer gegen Widerstände), schließt sich Gruppen an, und in dieser wechselhaften Alternative entwickelt er sich zum Individuum. Gruppen geben immer etwas vor, das reicht von harmlosen Zeichen der Mitgliedschaft bis zum Zwang und zur Unterdrückung. Ich-Bildung ist immer emanzipatorisch, will Unabhängigkeit von äußeren Vorgaben oder Zwängen. Das passt letztlich nie zusammen.

Religionen sind eigentlich Wege zur Selbständigkeit und Freiheit („Zur Freiheit hat euch Christus befreit“), das kann man theologisch begründen, führt hier aber zu weit. Die Kirchen haben außerdem dieser Befreiung meist zuwider gehandelt und erdrückende Auflagen entwickelt, die der eigenen Religion widersprechen. Das ist im Islam so wie im Christentum.

Viele entfliehen dem in eine säkulare Gesellschaft, glauben sich allein dadurch unabhängig – und erliegen neuen Zwängen (Markt, Wachstum, Ideologien, Geltung, Gruppenzwängen). Was anderes ist z.B. (um nur ein harmloses Beispiel zu nennen) die Mode? Es ist zwar ein subtilerer Zwang, aber es ist de facto Zwang. So ist der Minirock oder die Bauchfreiheit genauso Symbol der Unterdrückung wie das Kopftuch! Es steht ja auf dem frei liegenden Nabel nicht geschrieben, ob die Trägerin es aus Überzeugung tut oder weil sie es einfach schön findet, oder ob sie es tut, weil sie dem subtilen Zwang der Mode folgt und sich nicht getraut, dem etwas Eigenes entgegenzusetzen.

Theoretisch ist es leicht, sich dem Zwang der Mode zu entziehen, aber das setzt Ich-Stärke voraus. Praktisch handelt man sich durch diese Ich-Stärke ein Außenseitertum ein, das oft schwer zu ertragen, im Umkreis der Pubertät fast unmöglich ist. (Ist für Männer übrigens nicht anders). Tragischer wird es bei den buchstäblich beherrschenden Körperbildern. Dort endet es im Pathologischen (Diätwahn, Bulimie, „Schönheits“-OPs, von denen keine Körperregion verschont bleibt). Das Thema ließe sich endlos fortsetzen – aber bei uns gibt es ja keine Unterdrückung der Frau!

Mit anderen Worten: Wir fordern (in der unseligen Kopftuch-Debatte) von anderen die Emanzipation, für die wir selber zu schwach sind. Wir geben vor, für die Freiheit der anderen (der Musliminnen) zu kämpfen, für die zu kämpfen wir selbst zu feig sind.

 

Wer am meisten anfällig für Projektionen ist

Diese Projektionen vorausgesetzt ist es auch mehr als verständlich, dass vor allem diejenigen aggressiv gegen das Kopftuch sind, die hinter ihrem rechten Macho-Gehabe kein eigenes Ich entwickelt haben und sich in der Kollektivität einer Burschenschaft, der FPÖ, PEGIDA, AfD, Front National, und wie sie alle heißen, verstecken müssen. Wer keine Ich-Stärke entwickeln konnte, fühlt sich durch alles Fremde (vor allem das Fremde in sich selbst, denn um das geht es eigentlich) bedroht. Der muss sein zartes Ich schützen, so wie in den Schrebergärten sogar einzelne Tulpen mit Plastikzäunen „geschützt“ werden. Der braucht die Nationalität, um sein Ich-Vakuum zu füllen. Der braucht Zäune, um ein Ich vorzutäuschen.

Was uns hier als Heimat- und Nationalbewusstsein verkauft wird, und womit Stärke vorgetäuscht wird, ist pure Existenzangst. Vergleichbar dem Gefühl eines Neugeborenen, das sich plötzlich dem grellen Licht dieser Welt ausgeliefert fühlt, und das am liebsten wieder in den Mutterleib zurückkriechen würde. Es muss aber den oft rauen Weg der Ich-Bildung und Selbstfindung gehen, der in der Pubertät in eine Krise gerät, die aber in die Selbständigkeit führen sollte. Rechte Gemüter sind in dieser pubertären Krise steckengeblieben und weigern sich, selbständig zu denken. Sie suchen Schutz im Mutterleib von Kollektiven wie Burschenschaften, Parteien usw., die vorgeben, für den Schutz des kaum vorhandenen Ichs zu kämpfen.

Dass deren Führer nur das eigene, kaum vorhandene Ich ummauern wollen, bleibt unbewusst. Sie lehnen die EU z.B. ab, weil sie darin nur das Europa der Projektionen sehen können. Hätten sie genügend Ich- und Selbstbewusstsein, würden sie Europa nicht als Bedrohung (ihres zarten Ichs) sehen, sondern als mögliche Stärke der Gemeinsamkeit. Dann würden sie die zweifellos vorhandenen Schwächen dieser Gemeinschaft beseitigen und verbessern wollen, statt sie bloß zu bekämpfen. Dann würden sei an einem gemeinsamen Haus (in dem alle ihre individuellen Räume bewohnen können) bauen, statt das gesamte Gebäude niederreißen zu wollen.