Wir leben in einer pubertären, narzisstischen Zeit, aber es gibt einen Weg aus der Misere.
Wozu ein Buch über männliche Narzissmus? Schon weil es von der Verteilung her eine eher männliche Störung ist. Aber auch, weil unsere Zeit narzisstisch geprägt ist und die Diskussion um eine patriarchale Gesellschaft und die Emanzipation der Frau nicht um dieses Thema herumkommt. Und weil jeder zumindest etwas davon in sich trägt. Die „definierte narzisstische Persönlichkeitsstörung als Vorführmodell, um den alltäglichen Narzissmus des Herrn Jedermann besser zu verstehen“.
Jeder, der sich interessiert oder es wagt, ein Buch auch über schwerste Neurosen zu lesen, ist dankbar, dass sie ihn nicht betreffen, und erstaunt darüber, wieviel davon er selbst in sich trägt. So ist auch niemand frei von narzisstischen Elementen, sie helfen ja ungemein, etwa in der Arbeitswelt. Da ist die Empathielosigkeit des Narzissten nahezu Voraussetzung für eine Karriere, während man mit Empathie nicht weit kommen wird.
Aber zuerst die Basics: Der Narzisst wird oft mit dem Perfektionisten verwechselt, der auch um sich selbst kreist. Die Unterscheidung ist relativ einfach: Der Perfektionist hat Angst, nicht perfekt zu sein und daher nicht wertgeschätzt zu werden. Der Narzisst ist völlig frei von Angst, ist er doch von seiner Besonderheit überzeugt. Er hat kein Problem mit der Angst, sondern mit der Liebe. Das scheint oberflächlich nicht so, hat er doch als Charismatiker Liebschaften en masse. Aber er ist nur an sich selbst interessiert, nie an den Partnerinnen. Die sind Objekte, solange sie ihm nützen und ihn bewundern. Eine Frau als Person auf Augenhöhe zu sehen, ist ihm unmöglich. Er bleibt in sich selbst gefangen. Womit wir bei der zentralen Aussage wären: Der Narzissmus – auch der Narzissmus der Gesellschaft – ist ein Gefängnis, aus dem schwer herauszukommen ist.
Es gibt in der Systematik des Genetikers und Psychiaters Robert Cloninger vier Dimensionen des Temperaments (klassisch: Choleriker, Sanguiniker, Melancholiker, Phlegmatiker), die angeboren sind, die phylogenetisch älteren Hirnareale abbilden und nichts mit Persönlichkeitsstörungen zu tun haben, und drei Dimensionen des Charakters (Selbstkontrolle, Kooperationsfähigkeit, Selbsttranszendenz), die den jüngeren Hirnarealen (frontaler, temporaler und parietaler Neokortex) entsprechen. Letztere sind die Problemzonen des Narzissten. (In der Gesellschaft ginge es dabei um die Legislative, das Sozialsystem und den Sinn des Staates).
Beim Narzissten sind sie ausgeprägt als Selbstidealisierung, Abwertung der anderen und Unfähigkeit zur Selbsttranszendenz. Damit bleibt der Narzisst in sich selbst gefangen. Ein überzogenes Selbstwertgefühl, oft als „Grandiosität“ bezeichnet, führt folgerichtig zur Abwertung der anderen, die ihm natürlich nicht das Wasser reichen können. Und beides macht die Selbsttranszendenz, das über sich Hinausgehen, sich in einem größeren Ganzen selbst finden, völlig unmöglich. So ist der Narzisst beziehungsunfähig, behandelt andere als Objekte, sieht in seinen Partnerinnen bloß Gebrauchsgegenstände, die ihn zu bewundern haben, und geht über Leichen, wenn sie ihm nicht mehr nützen oder langweilig werden.
Nebenbei erfährt man in dem Buch einiges über Kindererziehung, worin Bonelli eine der Ursachen festmacht. Ein Buchkapitel nennt sich bezeichnenderweise „His Majesty the Baby“, ein anderes „Vernachlässigung durch Verwöhnung“. Was hier gefördert wird, ist damit klar, und die bei amerikanischen Studenten erhobenen Narzissmuswerte stiegen zwischen 1979 und 2006 um 30 Prozent an. Wie schon erwähnt, legt das Buch nahe, sich auch über den Wandel in der Gesellschaft Gedanken zu machen, geht doch der Anstieg der Narzissmuswerte einher mit einer ebensolchen Zunahme an Selbstbewusstsein, Selbstwertgefühl, Durchsetzungskraft und Extraversion. Sind das doch die Garanten für „Erfolg“ z.B. in der Wirtschaft: übertriebenes Selbstwertgefühl, Ellbogentaktik und moderne Sklavenhaltung.
Beinahe als Fazit könnte man anführen, dass ein überhöhtes Selbstwertgefühl auf einen Selbstbetrug hinausläuft. Tatsächlich lebt der Narzisst in einer imaginären Welt, die mit der Wirklichkeit wenig zu tun hat. Psychische Gesundheit wäre dagegen in einem Selbstbild, das möglichst der Realität entspricht. Das gilt natürlich auch für die Gesellschaft als Ganze, könnte man den Gedanken weiterspinnen. Managementberater, Life-Coaches etc. schwärmen heute von grenzenlosem Erfolg, Macht, Brillanz, Schönheit oder idealer Liebe – und genau diese Fantasien finden sich unter den klinischen Symptomen des Narzissmus. Der amerikanische Historiker und Sozialkritiker Christopher Lasch spricht nicht ohne Grund von einem „Zeitalter des Narzissmus“, die Narzissmusexpertin Jean Twenge sogar von einer „Narzissmus-Epidemie“.
Noch ein Themengebiet aus dem umfassenden Fundus des Buches: die (fehlende) Selbsttranszendenz (des Narzissten). Bonelli zitiert Viktor Frankl: „Der grundlegende anthropologische Tatbestand, dass Menschsein immer über sich selbst hinaus auf etwas verweist, das nicht wieder es selbst ist – auf etwas oder jemanden: auf einen Sinn. Und nur in dem Maße, in dem der Mensch solcherart sich selbst transzendiert, verwirklicht er auch sich selbst: im Dienst an einer Sache. Ganz er selbst wird er, wo er sich selbst – übersieht und vergisst.“ Dieses für das Menschsein Grundlegende fehlt dem Narzissten völlig, er bleibt im Gefängnis seiner Selbstimmanenz. Daher schließt sich für den Psychiater Wilhelm Stekel Narzissmus und Religiosität aus. Narzissten sind auch meist Atheisten, weil sie gar keinen „Gott“ neben sich ertragen könnten. (Es gibt in dem Buch auch eine Kapitel über „Narzissmus in den Weltreligionen“, bzw. deren Stellung dazu.)
Trotz aller Verflechtungen, die sich daraus ergeben, ist der Narzissmus heilbar. Aus der Empathielosigkeit und Beziehungsunfähigkeit ist zu schließen, dass es nur einen Weg aus der Misere gibt: die Liebe. Verliebt sich der Narzisst einmal wirklich, ist er kein Narzisst mehr. Das passiert manchmal sogar, die anderen – sofern sie darunter leiden, und das tun sehr viele – gehen zum Therapeuten und/oder müssen an sich arbeiten.
Fazit: Ein lesenswertes Buch für Narzissten und solche, die es nicht werden wollen, und für alle, die den Narzissten in sich näher kennenlernen wollen. Das Buch ist außerdem gespickt mit Fallbeispielen, in denen anschaulich die Probleme des Narzissten sichtbar werden.

Raphael Bonelli
Männlicher Narzissmus
Das Drama der Liebe, die um sich selbst kreist
Kösel Verlag 2016, 272 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag
ISBN 978-3-466-34639-4
€ 19,99 [D]
€ 20,60 [A] | CHF 26,90*
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