Mein Wunsch ans Universum

Mein Wunsch ans Universum wäre: Versteck dich doch nicht so verschämt hinter der äußeren Fassade, auch wenn das Dahinter noch so schwer zu verstehen ist!

Ich find es immer so lieb, wenn heute so verschämt vom „Universum“ die Rede ist. Es ist etwas ganz anderes gemeint, über das man aber heute nicht mehr reden darf, weil es zum Tabu geworden ist. Es zeigt nämlich nur, dass man den Menschen nicht seines Wesens berauben kann. Das ist, als würde man abgelutschte Kerne vergraben, um sie los zu werden, und im nächsten Frühling treiben sie fröhlich aus.

Was meine ich damit?

Nicht erst seit den Missbrauchsskandalen ist die Kirche unglaubwürdig geworden, hat die Deutungshoheit über Gott und die Welt – und vergessen wir nicht den Menschen, um den es in erster Linie geht – verloren. Das hat inner- und außerkirchliche Gründe und ist vor allem zeitbedingt. Wie die Kirche damit zurechtkommt, ist ihre Sache. Wie wir damit zurechtkommen, ist unsere Sache.

Tatsache ist:

Das Wort „Gott“ ist so abgenudelt, dass es kaum noch zu gebrauchen ist.

Das liegt allerdings zum größeren Teil an der Kirche, die uns im Laufe ihrer 2000-jährigen Geschichte mit falschen Gottesbildern nur so bombardiert hat. Im 2. Vatikanischen Konzil hat sie es sogar selbst ganz zaghaft zugegeben. Sie hat „Gott“ immer am biblischen „Du sollst dir kein Bild machen“ vorbeigeschummelt. Und so etwas scheint sich auch „Gott“ auf Dauer nicht gefallen zu lassen.

Fazit ist jedenfalls:

Wir müssen uns was Neues einfallen lassen, um das Alte wieder zu verstehen.

Nachdem die Aufklärung so manchen Aberglauben und eben auch diese fiesen Götterbilder hinweggefegt, den Weg für die Naturwissenschaft freigemacht, aber das Weltbild auf Schrebergartenniveau reduziert hat – es hat eben alles in der Welt (mindestens) zwei Seiten – ist der Weg der Kirche natürlich nicht mehr glaubwürdig. (Nicht, dass es nicht auch großartige Priester gibt, aber die haben wenig oder nichts zu reden). Von „Gott“ zu reden lockt niemand mehr hinter dem Ofen hervor, ganz im Gegenteil. Die Kirche, die so lange den Anti-Christ beschworen hat, ist selbst zum Anti-Mephisto geworden: Mephisto, den Goethe so treffend beschrieben hat als den „Geist, der stets verneint, der stets das Böse will und stets das Gute schafft“, während die Kirche zunehmend zum Gegenbild erstarrt: zum Geist, der stets das Gute will und damit stets mehr Ablehnung schafft.

Wir brauchen etwas Neues, damit das Alte nicht verloren geht.

Der Kirche laufen ihre Schäfchen in Herden davon. Was man sogar biblisch als neue Phase sehen kann. Es wiederholt sich ja nur die Geschichte. Jesus kam zunächst „nur für das Haus Israel“, aber schon immer spielte sich Wesentliches außerhalb ab. Etwa Heilungen oder das Gespräch mit der Frau am Brunnen oder die Sache mit dem barmherzigen Samariter. Schon im Kern des Evangeliums kommt vieles von außerhalb.

Die Haltung vieler der flüchtenden Schäfchen ist: Die Kirche sagt mir nichts (mehr), aber ich bin ein spiritueller Mensch. Was auch naheliegend ist: Es würde sonst dem Menschen auch etwas zutiefst Menschliches fehlen. Damit verbunden ist, dass das Wort „Gott“ verpönt ist. Mit einem so missbrauchten und abgenudelten Begriff ist auch kaum mehr zu arbeiten. In den 1960er Jahren begannen sich die Menschen, die sich von der Kirche abwendeten, asiatischen Kulturen zuzuwenden. Eine Welle des Buddhismus folgte auf eine Yogawelle. Beides ist inzwischen so verflacht, dass es kaum wiederzuerkennen ist. Yoga wurde zur zirkusreifen Gymnastik, der Buddhismus reduzierte sich auf ein paar unverstandene Phrasen. Aus dem mehr als abgestandenen Wasser sollte etwas Neues entstehen.

So wird statt „Gott“ heute immer öfter das „Universum“ beschworen.

Da wird es naiv mit „Wünschen an das Universum“ bombardiert, was um nicht besser ist als die „Volksfrömmigkeit“ des Mittelalters. Früher wurde „Gott“ mit Wünschen traktiert, heute das Universum. Wo, bitte, ist da der Fortschritt? Es ist ja wirklich lieb, wie jetzt alles, was man früher „Gott“ in die Schuhe geschoben hat, nun dem „Universum“ aufgebürdet wird. Und der Gipfel der Naivität: Man erwartet Antworten vom „Universum“!

Also entweder ist das Universum das, was es in der Kosmologie ist, eine gigantische Ansammlung von Sternen, Galaxien, dunkler Materie und dunkler Energie – dann wird es keine Antworten geben und kaum Wünsche erfüllen können. Oder wir sprechen aus, was heute zum Tabu geworden ist, nämlich dass es auch da so etwas wie Bewusstsein gibt – und dann sind wir wieder da, wo wir schon immer waren. Denn früher hat man das als „Gott“ bezeichnet. Eine Metapher für ein unbegreifliches „Alles und mehr“.

Kein Bewusstsein ohne Materie – keine Materie ohne Bewusstsein

Szientisten behaupten heute, es gibt kein Bewusstsein ohne Materie. Womit sie ja Recht haben. Aber das ist eben nur die eine Seite der Medaille. Was, wenn es auch keine Materie ohne Bewusstsein gäbe? Und genau darauf zielt das hilflose Sprechen vom „Universum“ eigentlich ab. Nur sagt das niemand dazu. Diese beiden Auffassungen sind wie Teilchen und Welle in der Physik komplementär, also zwei Seiten einer Medaille, die zwar gegensätzlich sind, aber nur zusammen die Wirklichkeit ergeben können. Komplementarität ist einer der wichtigsten Konsequenzen der Quantentheorie. Es ist die Absage an das aristotelische Entweder-Oder. Und auch die Absage an ein bloß dingliches Universum.

Wenn wir das kindische „Wünschen ans Universum“ beiseitelassen, das eines modernen Menschen wirklich unwürdig ist, dann sind wir beim Universum als lebendem Organismus. Und dann ist der verschämte Ausdruck „Universum“ so als würde ein Mensch auf uns zukommen, und wir rufen aus: Oh, da kommt ein Mantel! Statt einen unverstandenen „Gott“ beten wir jetzt eine ebenso unverstandene Materie an? Das kann es nicht sein, und das ist auch nicht gemeint.

Auf die seit Jahrtausenden widerstreitenden Weltbilder angewendet heißt das: Wir können die Welt (und den Menschen) nicht bloß entweder als statisches Sein oder dynamisches Werden beschreiben. Weder ein naturwissenschaftliches, noch ein spirituelles Weltbild reichen dazu aus, sondern wir brauchen immer beides. Solche wesentlichen Gegensätze sind nicht dazu da, einander auszuschließen, sondern einander zu ergänzen.

Das Universum wird erst dann Antwort geben können, wenn es ein lebendiges Universum ist. Das meint das indische „Sat-Chit-Ananda“ (Sein, Bewusstsein, Glückseligkeit) wie auch das christliche trinitarische „Sein-Bewusstsein-Liebe“ (Joseph Ratzinger). Ost und West sind nämlich genauso komplementär wie Yin und Yang, Teilchen und Welle, männlich und weiblich, Außenwelt und Innenwelt, Physik und Psychologie oder Naturwissenschaft und Religion.

Theodizee, Holocaust und Verantwortung

Dieser Tage ist Johann Baptist Metz 90 Jahre alt geworden. Abgesehen davon, dass er ein charismatischer Lehrer war, hat er eine der brennendsten Fragen seiner – und unserer -Zeit gestellt: die alte Frage, wie Gott das zulassen kann, oder in der heutigen Form: Wie ist Theologie, wie ist Religion nach Auschwitz überhaupt noch denkbar?

Die bürgerliche Religion, in die sich die meisten Religiösen wieder zurückgezogen haben, während die anderen sich überhaupt abwandten, ist nicht mehr möglich. Der gute Gott, der alles lenkt und beherrscht, ist zur Blasphemie geworden. Das kann man einem Gott nicht (mehr) unterstellen. Die süßliche Religion ist nicht mehr glaubwürdig, sie ist sogar abschreckend und ein wesentlicher Grund dafür, dass sich viele abwenden und Atheisten oder Agnostiker werden.
Ebenso werden die mit Klauen und Zähnen verteidigten konfessionellen Grenzen hinfällig und einfach nur lächerlich. Alle Streitpunkte verblassen, wenn es um das Wesentliche geht. Ökumene kann doch nicht darin bestehen, die Vielfalt zu nivellieren, sondern nur darin, sich endlich auf das Wesentliche zu konzentrieren.

Wie konnte Gott den Holocaust zulassen?

Es ist zuallererst die Frage, wie wir uns „Gott“ vorstellen. Im Alten Testament steht noch: Du sollst dir kein Bild machen! Und doch: Auf dem Weg durch die Wüste (des Lebens) haben die Israeliten (wir) sich ein goldenes Kalb gegossen, das sie anbeteten, weil sie vom Gott des Mose keine Vorstellung hatten und haben konnten. In vielen Kirchen finden wir noch den alten Mann mit weißem Bart. Eigentlich eine Häresie.
Religiöse Schriften – für Christen das Alte und Neue Testament – handeln nicht von Gott, sondern vom Menschen und seiner Beziehung zum Unendlichen. Das oft in gleichnishafter und symbolischer Sprache, die wir heute trotz Tiefenpsychologie nicht mehr verstehen. So lesen wir die Schriften als Schriften über Gott. Damit brauchen wir uns nicht um die menschlichen Tragödien zu kümmern. Es ist eine einzige Projektion. Nicht die Schriften, sondern unsere Lesart. So gesehen ist bürgerliche Religion, ist die übliche Lesart der Bibel verantwortungslos.
In dieser Lesart verdrängen Christen am liebsten das ganze Alte Testament, weil es ja an manchen Stellen so grausam ist. Dabei ist das bloß Realismus. Es war der Mörder Mose, der die Israeliten aus der inneren Abhängigkeit befreien und die innere Wüste in Beziehung zum Unendlichen bringen wollte. Und dann ein symbolisches Bild, das eigentlich Kern des Christentums sein sollte: Die Israeliten werden als Folge ihres Verhaltens reihenweise von Schlangen gebissen und sterben. Doch Mose findet – mit Hilfe des Unendlichen – auch dafür eine Lösung: Er machte eine Schlange aus Kupfer und hängte sie an einer Fahnenstange auf. Jeder, der von einer Schlange gebissen wurde, blieb am Leben, wenn er zu der Schlange aufschaute (Num. 21,4-9).
Die Schlange als Symbol des Bösen ist auch das Symbol des Heils. Die erhöhte Schlange ist auch der erhöhte Heiland. Goethe drückte das im Faust so aus: „Ich bin der Geist, der stets verneint, ein Teil von jener Kraft, der stets das Böse will und stets das Gute schafft.“ Um heil (ganz) zu werden, reicht eine süßliche Religion nicht aus. Das Negative will gesehen und umgewandelt werden. Es abzuspalten – wie es die Kirche getan hat und tut – ist der falsche Weg. Ins Unbewusste verdrängt, wächst seine Kraft und bricht irgendwann hervor. Schlimmer als je zuvor.
Nach der schier unfassbaren Verhöhnung des Humanen durch Auschwitz ist eine Verherrlichung Gottes, der „alles so herrlich regieret“, nicht mehr möglich. J. B. Metz: „Wir Christen kommen niemals mehr hinter Auschwitz zurück; über Auschwitz hinaus aber kommen wir, genau besehen, nicht mehr allein, sondern nur noch mit den Opfern von Auschwitz.“ Wir können von Gott nicht reden, ohne das größte Übel mit hinein zu nehmen – auch wenn das völlig irrational ist. Im Absoluten ist Rationales und Irrationales eins, weil es weder das eine, noch das andere ist, sondern ganz was anderes. Aber darüber können wir nichts sagen.
In der Bildersprache religiöser Schriften: Der Gott des Mose ist unvorstellbar. Selbst in der Beziehung („Offenbarung“) sagt er nichts als „Ich bin“. Alles andere wäre bereits menschliche Vorstellung. Als Wesen der Endlichkeit brauchen wir allerdings unsere goldenen Kälber, müssen allerdings aufpassen, dass wir nicht von den Schlangen gebissen werden, die die Entwicklung des Menschen in Gang gesetzt haben. Teilhard de Chardin würde, wie Sri Aurobindo von Involution und Evolution sprechen.
Die europäische Kulturgeschichte beginnt schon in der Antike mit der Vorstellung vom Sein (Parmenides) und Werden (Heraklit). Diese beiden (statische und dynamische) Weltbilder ziehen sich durch die Geschichte, und das statische Weltbild gewann mit der Naturwissenschaft und dem daraus entstehenden Weltbild der „modernen“ Gesellschaft die Oberhand. Doch sogar die Physik kommt am Ende zu der Ansicht, dass beide Sichten notwendig sind. Teilchen (Statik) und Welle (Dynamik) sind eins (Feld). Wir brauchen die Gegensätze, um die Wirklichkeit komplementär zu beschreiben. Das Aristotelische Entweder-Oder hat nach zweieinhalb Jahrtausenden ausgedient. Sogar die physikalische Welt (die sich als Methode von der geistigen Welt losgesagt hat) ist im Innersten ganz und eins. Es gibt nur das Ganze, es gibt keine Teile, obwohl wir darüber reden müssen.
Schwieriger ist es, wenn es nicht um Sein oder Nicht-Sein geht, sondern um Gut und Böse. Wir müssen annehmen, dass auch dieses Gegensatzpaar komplementär zusammengehört. Dass das Positive nicht denkbar ist ohne das Negative. Das ist genauso unvorstellbar wie Teilchen und Welle als ein Quantenphänomen. Es gibt da nur einen Ausweg: Unser Weltbild ist ein zutiefst statisches, die Dynamik fehlt völlig. In diesem statischen Weltbild ist Komplementarität nicht vorstellbar. Wir müssen also lernen, dynamisch und ganzheitlich zu denken.
Die Quantenphysik ist voll mit völlig verrückten Ideen, die sich dann als richtig erwiesen. Ebenso verrückt erscheint ein Satz von Leibniz: Diese Welt ist die beste aller Welten. Aus der statischen Teilchensicht ist das Unsinn. Aber Leibniz lebte am Beginn der Naturwissenschaft, hat aber das statische Weltbild nicht mitgemacht. Seine Philosophie ist Dynamik. Die Welt ist deshalb die beste aller denkbaren Welten, weil sie entwicklungsfähig ist.
Naturwissenschaft und Religion stehen heute deshalb so unversöhnlich gegenüber, weil auch die Religion ein dynamisches Weltbild vertritt, das vom statischen Weltbild der Gesellschaft nicht mehr verstanden wird. Es geht nicht um Gott oder das Sein, sondern um den Menschen und sein Werden. Vom statischen Denken widerspricht sich die Bibel laufend. Vom dynamischen Denken korrigiert sie sich ständig, weil der Mensch in Evolution ist. Die Bibel ist auch insofern unlogisch (bezogen auf die aristotelische Logik), weil sie die Gegensätze nicht eliminiert, sondern bestehen lässt, weil sie komplementär zusammengehören.
Und wenn eine süßliche Religion nach Auschwitz nicht mehr möglich ist, wenn der Gott, der alles in seiner Güte lenkt und steuert, tot ist (Nietzsche), dann wirft uns das zurück auf das, was Religion wirklich ist: Menschsein als Entwicklung zu sehen, was C.G. Jung als Individuation bezeichnet hat. Diese Entwicklung ist nicht von einem Gott gesteuert, wir sind ja keine Marionetten, sondern sie liegt in unserer eigenen Verantwortung. An Gott zu glauben oder nicht, ist nicht das Entscheidende. Es bleibt dabei ohnehin offen, woran man da glaubt oder nicht glaubt. Es geht einzig und allein darum, die Verantwortung für das eigene Sein und vor allem Werden zu übernehmen.
Um es drastisch zu sagen: Viele, die man als konservative Fundamentalisten bezeichnet, sind diejenigen, die ihr inneres Auschwitz leben. Die glauben, die Wahrheit zu besitzen und alle anderen der Lüge bezichtigen, für die alle anderen Religionen und sogar Konfessionen Teufelswerk sind. Diesen inneren Gesinnungs-Holocaust müssten wir heute überwinden. Verantwortliche Entwicklung schließt das innere und äußere Fremde mit ein.

Gedanken zu den „Wortkörpern“ von Johann Berger

32202744_2403905552960308_6426007451253866496_nAm 24. Mai 2018 wurde im traditionsreichen Palais Strozzi in Wien, organisiert vom „Complexity Science Hub Vienna“, einem Institut, das sich der Komplexitäts-forschung widmet, die Ausstellung „Wortkörper“ von Johann Berger eröffnet – ebenso gelungen wie spannungsgeladen. Innovative Wissenschaft in einem traditionsreichen Gebäude präsentiert ebenso innovative Kunst, die auf antike Begriffe rekurriert.

DSCN4650_webBerger unternimmt etwas, das es bislang nicht gegeben hat. Er nimmt Begriffe aus dem Griechischen und Hebräischen, nimmt den Buchstaben das Nacheinander, setzt sie hintereinander und entwickelt daraus eine buchstäblich begreifbare Form. Im Innenhof des Gartenpalais steht außerdem noch etwas erstmals Realisiertes, ein Objekt, das als 3D-Druck aus Beton entstanden ist, aus der Entwicklungsabteilung des Bauunternehmens Baummit.

Kunst wird dann bedeutsam, wenn sie beim Betrachter das Innere anrührt und/oder zum Denken anregt. Dazu fordert die doppelte Spannung zwischen Tradition und Innovation geradezu heraus.  Man kann sagen, dass bereits Aristoteles die komplexe Natur zu erschließen versuchte. Der kulturelle rote Faden reicht bis zur Naturwissenschaft, die aber lange Zeit eine Theorie einfachster Systeme war. Erst in heutiger Zeit versucht man, der Komplexität der Natur gerecht zu werden.

Johann Berger nimmt antike Begriffe in griechischer und hebräischer Schrift, und setzt die Worte dreidimensional in den Raum, so dass sie buchstäblich begreifbar werden. Damit passiert etwas, das es bisher noch nicht gegeben hat, das aber auch der heutigen Verwendung von Worten einen Spiegel vorhält. Wir wollen „begreifen“, wir definieren, d.h. wir grenzen den Begriff ein. Dass dadurch nicht nur etwas klarer wird, sondern auch etwas verloren geht, kommt uns nicht mehr in den Sinn.

 

In der Antike waren die Sprachen bildhafter und weniger begrifflich als heute. Auch eine klare Bedeutung war mehrdeutig. So war das hebräische Wort für „Vater“ auch das Wort für „Ursprung“. Letzteres geht verloren, wenn Fundamentalisten es nur mehr anthropomorph als „Vater“ verwenden. Zudem erleben Worte einen Bedeutungswandel. Sprache ist lebendig und wandelt sich ständig. Wer heute an einen „persönlichen“ Gott glaubt, der glaubt so ziemlich das Gegenteil dessen, was damals darunter verstanden wurde. Persona war die Maske im griechischen Theater, die „Person“ (im heutigen Sinne) dahinter, der Schauspieler, blieb unsichtbar und verlieh der Maske das Leben, den Charakter. Als der Begriff der Trinität kreiert wurde, dachte man wohl mehr an drei Masken als an drei „Personen“.

Diese Mehrdimensionalität der (mehr bildhaften) Wortbedeutungen ist verloren gegangen. Selbst die hebräischen Buchstaben sind keine Zeichen, sondern Bilder, Symbole, die auch in Zahlen ausgedrückt werden können, wodurch ihre Bedeutung klarer und gleichzeitig vieldeutiger wird. Dies alles schwingt in Bergers „Wortkörpern“ mit, durch die paradoxe Situation, dass gerade durch das „festgestellte“ statische Objekt die ganze Kulturgeschichte mitschwingt. Dadurch wird ein Finger auf den wunden Punkt unserer Kultur gelegt, nämlich dass unsere Begriffe die Dimension der Zeit, ihren dynamischen, mehrdimensionalen und vieldeutigen Charakter verloren haben.

Das ist jedoch nicht nur der Sprache geschuldet, sondern dem vorherrschenden Weltbild, das ein zutiefst statisches ist, dem die Zeit, jegliche Dynamik, jegliche Entwicklung fremd ist. Das europäische Denken zerlegt die Welt in kleinste Teilchen, das Ergebnis sind ganz scharfe Standbilder, mit denen der dynamische Film der Wirklichkeit aber verloren ist. Der zweite Strang der europäischen Kultur, der schon bei Heraklit („Man steigt nicht zweimal in denselben Fluss“, „panta rhei“ = alles fließt) anklingt, spielt eine zunehmend unbewusste, verdrängte, inferiore Rolle. Nicht zufällig ist die Frage der Zeit für die heutige Leitwissenschaft Physik ein unlösbares Problem. Selbst das Zusammenfügen der Standbilder zu einem großen Ganzen ergibt immer noch keinen Film.

Es ist das Verdienst Johann Bergers, dass er durch seine „festgestellten“, materialisierten Formen auf die lebendige Tradition verweist, auf das Fließen, auch der Übergänge zwischen den Buchstaben. Der Betrachter wird angeregt, nicht nur den Prozess der Entstehung des Objekts, wie auch der ursprünglichen Worte mitzudenken, wodurch Verlorenes wieder lebendig werden kann.

 

Manfred Kochs Welt-Bilder

Koch_printempsDie Kunst Manfred Kochs besteht vor allem darin, Bewegung in einem statischen Medium einzufangen. Dazu braucht es Technik, Geduld und ein offenes Welt- und Menschenbild.

Unser gewohntes Weltbild ist ein durch und durch statisches. Wir sehen Objekte und Dinge, die auch wenn sie sich bewegen, ohne Veränderung in sich sind. Heraklits „panta rhei“ war dagegen offensichtlich machtlos. Wir sehen das Fließen der Dinge nicht. Wir sehen ein Gebäude als „Objekt“, vernachlässigen seine Geschichte, die vom Bau bis zum Verfall reicht. Die Bewegung ist zu langsam, als dass sie uns auffallen würde. Und doch ist sogar ein Berg in fließender Bewegung, wurde einmal vor langer Zeit aufgefaltet und schrumpft dann Millimeter für Millimeter.

Wir denken sozusagen in Standbildern (Dingen, Objekten) und übersehen den Film (die Geschichte), der die Wirklichkeit ausmacht. Unsere Bilder der Wirklichkeit haben noch nicht laufen gelernt. Dazu kommt, dass wir uns an ein (pseudo)naturwissenschaftliches Weltbild klammern, und (die klassische) Naturwissenschaft darin besteht, die Welt in kleinste Teilchen (Standbilder) zu zerlegen. Erst nach 1900 kam diese Teilchenwelt ins Wanken, zumindest in der Physik. Teilchenbild und Wellenbild gehören komplementär zusammen. Im Gegensatz zur klassischen hat aber die moderne Physik kaum einen Einfluss auf unser Weltbild.

In der Welt Manfred Kochs gibt es Foto und Film, festgehalten mit einem „Objektiv“, das Objekte darstellt oder „bewegte Bilder“. Im Film laufen die Bilder so schnell vor unserem Auge ab, dass sie wie Bewegung erscheinen. In dieser „Bewegung“ verstecken sich die Standbilder. Das Faszinierende an Kochs Fotos ist, dass er im statischen Bild Bewegung sichtbar macht, dass er Ruhe und Bewegung nebeneinander in komplementäre Spannung stellt. Seine Fotos fangen nicht Objekte ein, sondern Momente einer Bewegung, einer Geschichte. Das Festgehaltene ist nicht Objekt, sondern Verdichtung von Zeitlichem. Sinnliches wird damit auch zum Sinnhaften, über sich Hinausweisenden, Fotografie zur Philosophie.

Dazu kommt man nicht, indem man ein Motiv erfasst und auf den Auslöser drückt. Zur Inszenierung gehört ganz wesentlich das Warten, das Warten auf den richtigen Augenblick (Chairos), in dem Vergangenes und Zukünftiges mit eingefangen werden. Ein konkreter Ort und ein konkreter Zeitpunkt, die über sich hinausweisen. Es wird ein ganz bestimmter Augenblick eingefangen, in dem aber die Bewegung erhalten bleibt und im Kontrast zum statischen Teil des Fotos steht. Oft sind es mehrere Räume, die ineinander übergehen, und Bewegungen, die den ruhenden Teil der Komposition aus der Reserve zu locken scheinen.

Wie in jedem Kunstwerk ist das Bild der „Endpunkt“ eines Prozesses der Gestaltung. Dieser ist dann für den Betrachter der „Ausgangspunkt“ eines Prozesses, der vom Raum, den das Bild eröffnet, in den Innenraum, die Innenwelt des Betrachters führt. Das Bild ist die Mitte oder der Schnittpunkt zwischen der inneren Einstellung des Künstlers und der Innenwelt des Betrachters.  Die Fotos weisen dadurch ins Symbolhafte, sind mehrschichtig und mehrdeutig. Oft erzählen Details, die man beim ersten Blick gar nicht sieht, eine eigene Geschichte, die aber dem ganzen Bild eine neue Wende gibt.

Anders und doch nicht anders in der Serie „Übergangenes“, die Abbildungen von verwitterten Pariser Zebrastreifen. Hier erzählt gerade das statische Muster eine bewegte Geschichte.

Manfred Koch geht es nicht (nur) darum, etwas Äußeres festzuhalten, sondern aus sich heraus etwas zu gestalten. Gute Kunst ist immer auch ein Offenlegen des eigenen Inneren. Im Bild oder Foto trifft dieses Offengelegte dann auf die Innenwelt des Betrachters, wo etwas angerührt wird, das nicht vorhersehbar ist. Das Foto stellt eine Beziehung zwischen Künstler und Betrachter her, zwischen zwei Innenwelten, die einander durch das Foto in seiner Vieldeutigkeit begegnen.

Eine andere Spannung ist, dass jedem Foto eine genaue Vorstellung der Komposition zugrunde liegt. Und doch soll ein Ereignis festgehalten werden, das nicht vorhersehbar ist. Es ist ein Warten auf eine Begegnung, in der Geplantes und Zufälliges, nicht Berechenbares verschmelzen. Scheinbar Alltägliches bekommt durch den herausgehobenen Augenblick eine tiefere Bedeutung.

Manfred Kochs Fotos laden dazu ein, die „Dinge“ anders sehen zu lernen, das gewohnte Wahrnehmen und damit das gewohnte Denken zu übersteigen. Das europäische Denken ist ein Denken in einander ausschließenden Gegensätzen. In Kochs Fotos stehen die Gegensätze nebeneinander, schließen einander nicht aus, sondern kommunizieren miteinander, verweisen aufeinander und auf die Einheit des „panta rhei“. Auf die Vielschichtigkeit und Mehrdeutigkeit der Welt, die der modernen Sucht nach Eindeutigkeit, die es in der Natur gar nicht gibt, widersteht. Koch arbeitet mit seiner Kamera an einem neuen Welt-Bild.

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Theologie ohne „Gott“

Es gibt lebende und tote Sprachen und auch lebende und tote Sprachspiele. Wenn man heute Diskussionen vor allem von fundamentalistisch Glaubenden und ebenso fundamentalistischen Atheisten verfolgt, kann man sich des Eindruck nicht erwehren, dass beide Seiten keine Ahnung haben, wovon sie reden. Es geht um ein Wort, das längst totgeredet wurde. (Das Wort) Gott ist tot, wie Nietzsche sagte. Die Diskussion entzündet sich an einem unverstandenen, längst toten Wort.

Wie kann man heute noch über Gott reden, ohne das Wort „Gott“ zu verwenden, das vielen nichts mehr bedeutet. „Das Absolute“, der „Gott“ der Philosophen, ist zu abstrakt und genauso alt, „das Ganze“ wäre eine heutige Vorstellung, hängt aber zu sehr an den Teilen. Wie also noch von Gott reden?

Völlig übersehen wird dabei, dass einer schon längst eine ganz andere Sprache gesprochen hat: Jesus von Nazareth vor 2000 Jahren. Er hat das Wort kaum verwendet, hat meist vom „Vater“ gesprochen, ein Wort, das im Aramäischen auch „Ursprung“ heißt, also eine völlig andere Konnotation hatte, als wir ihm heute mit dem anthropomorphen „Vater“ unterstellen.

Im Alten Testament ist „Elohim“ ein Plural, und „JHVH“ ein nicht auszusprechende „Begriff“. Im brennenden Dornbusch gibt sich Gott zu „erkennen“ als der „Ich bin da“. Alles Beschreibungen und Zuschreibungen, die im heutigen Wort „Gott“ längst verloren gegangen sind.

Nur wir Heutigen tun so, als wäre mit dem Begriff „Gott“ alles klar. Wir haben eine konkrete, anthropomorphe Vorstellung, ein Bild, das wir uns schon laut AT gar nicht machen sollten. Wir pressen Gott in eine menschliche Vorstellung, was im AT mit dem Bild vom Goldenen Kalb bezeichnet wird.

Wie also noch von Gott reden?

Jesus hat von sich meist als „Menschensohn“ gesprochen und zeigt damit, wie Menschsein geht. Das vor allem war seine Mission. Aber auch „Ich und der Vater (auch Ursprung) sind eins.“ Und in Joh. 17 wird beides, auch für den Menschen, verbunden: „Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir bin, sollen auch sie in uns sein…“ Man kann nicht von Gott reden, ohne vom Menschen zu reden, und umgekehrt. Die Frage ist nur, wie?

Wenn aber Jesus sagt, „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“, dann ist das bereits eine andere Sprache, eine die ohne den (abgenudelten) Begriff „Gott“ auskommt. Einerseits spiegelt dieses Wort die Trinität von Weg (Sohn), Wahrheit (Vater) und Leben (Geist), ohne in das heutige Subjekt-Objekt-Denken abzusinken, andererseits umgeht diese Beschreibung ein konkretes statisches Bild und löst das Ganze in eine Dynamik auf. Leider ist dieser Satz noch nicht im Volk angekommen. Fundamentalisten klammern sich an eine „Wahrheit“, in deren Besitz sie sich wähnen, weil sie die Bibel haben und lesen können. Genau deshalb trifft auf sie das „Der Buchstabe tötet…“ zu. Anderen einen unverstandenen Begriff um die Ohren zu hauen, bringt beiden nichts. Vor allem, wenn der Weg und das Leben außen vor bleiben, ohne die aber die Wahrheit nicht zu „haben“ ist.

Spiritualität ist ein Weg, das heißt es gibt eine Orientierung, aber es ist sinnlos, voreilig von einem Ziel (Wahrheit) zu reden. Und Spiritualität ist ein Weg im Leben, dem nichts Menschliches fremd ist. Eine Theologie, die am Leben in all seinen Facetten vorbei geht, ist keine Theologie. Jesus hat sich nicht mit den Pharisäern (die die „Wahrheit“ verwaltet haben) zu Tisch gesetzt, sondern mit den Zöllnern (die „Sünder“, aber lebendig waren).

Eine lebendige Spiritualität braucht nicht unbedingt einen Begriff (Gott), sie braucht vielmehr einen Weg (inklusive der Demut, noch kein Ziel erreicht zu haben) im Leben (mit allen Facetten, Tiefen und Abgründen). Dieser lebendige Weg führt in die Tiefen der Seele, weshalb eine Religion ohne Psychologie zahnlos ist, und jedes Reden von Gott leeres Gerede.

Erst in dieser inneren Tiefe sind Weg und Ziel eins in der Wahrheit. Und für diese braucht es keine Begriffe.

Heimat?!

Kürzlich organisierte die Philosophin Cornelia Bruell in Baden einen Philosophischen Salon zum Thema „Heimat“. Ein politischer, soziologischer, psychologischer und natürlich auch philosophischer  Begriff. Das „Ergebnis“ kann sich sehen, hören und lesen lassen: http://www.philoskop.org/blog/2017/4/1/heimat-ist

Beim Philosophischen Salon geht es um das Mit-Denken. Da dieses weder räumlich noch zeitlich begrenzt ist, lasse ich mich zum Mit-Denken verführen. Das Thema beschäftigt mich ohnehin seit langem. Eigentlich seit meinem Aufbruch aus der Heimat.

  1. Heimat hat – wie so ziemlich alles – einen äußeren und einen inneren Aspekt, die aber nicht zu trennen sind, weil sie keine Gegensätze darstellen, sondern komplementär zusammengehören.
  2. Heimat ist (für mich) das Stück Land, das ich als Kind überschauen konnte. Das „meine Welt“ war, in die ich hineingestellt wurde. Außerhalb war Niemandsland. Da war Linz genauso fremd wie Teheran.
  3. Leben ist von diesem Gesichtspunkt aus ein ständiges Ausweiten dieses Territoriums: Übersiedlung, Gymnasium in der „Großstadt“, Studium in Wien, Reisen nach Graz, Innsbruck, Waldviertel, Deutschland, Ungarn, Italien, Frankreich, England, Schweiz, Ladakh, Ägypten, Island….
  4. Wir werden aber nicht nur in ein Land, eine Familie geboren, sondern auch in einen ganz bestimmten Denkrahmen, ein Weltbild. Auch das ist „Heimat“, denn es gibt auch andere Weltbilder, die völlig anders, aber genauso stimmig sind. Etwa fernöstliche Weltbilder.
  5. So werden die Denkgewohnheiten der Herkunftsfamilie erweitert durch die schulische Laufbahn in Richtung Allgemeinbildung (bei mir war es noch so). Durch meinen Philosophie-Lehrer im Gymnasium kam ich mit asiatischen Philosophien (Yoga, chinesischer Universalismus) in Berührung, überstand das Bundesheer mit dem Tibetischen Totenbuch unter dem Kopfpolster, war zehn Jahre in Wien in einer Yogagemeinschaft und studierte „nebenbei“ Philosophie, verbrachte anschließend immer ein paar Jahre in einer anderen Kultur (Sufismus, Indianer, tibetischer Buddhismus), um dann wieder in unserer Kultur zu landen. Bereichert um den Blick von außen, der den inneren ergänzt, und wissend um die Stärken und Schwächen verschiedener Kulturen und Denkrahmen.
  6. Außen und innen gehen immer komplementär Hand in Hand. Immer geht es um eine Erweiterung des Horizonts, um ein Vertraut-Machen des bis dahin Fremden, ein Einverleiben in die innere „Heimat“. Manchmal sogar die Erfahrung, ganz wo anders „Heimat“ gefunden zu haben.
  7. Das Heimatgefühl des als Kind Überschaubaren beim Eintritt in dieses Leben wird immer bleiben, aber einmal ins Leben geworfen gehen Wellen über den jeweiligen Tellerrand hinaus, machen Fremdes zu eigen – nicht nur andere Menschen und Kulturen, sondern auch und vor allem das eigene, innere Fremde (vor dem die rechte Szene so panische Angst hat, dass sie sich in einen pervertierten Heimatbegriff festkrallen muss), das integriert werden muss, damit es sich nicht im Außen gegen sich selbst wendet.
  8. Der kindlich erfühlte Heimatbegriff ist ein innerlich erlebter äußerer. Am anderen Ende des Lebens sollte ein äußerlich erlebbarer innerer Heimatbegriff stehen, ein belebtes Welt-Bild, das auch andere Kulturen, andere Weltbilder und das eigene innere Fremde integriert hat. Dann ist die kindliche Egozentrik zum Welt-Bild geworden.
  9. Der Mensch wird vom geistigen Schrebergartenbewohner zum Weltbürger – wenn er nicht unterwegs stecken bleibt.
  10. Man kann „Heimat“ vom Geboren-Werden her denken, aber auch von der Herkunft, vom Eingebettet-Sein in ein größeres Ganzes. Der Mensch ist Endliches, bezogen auf Unendliches. So gesehen ist uns das Unendliche, Ewige innerlicher als wir uns selbst sind (frei nach Augustinus). Das zu verdrängen macht den Menschen zum Torso und lässt ihn nie wirklich Heimat finden. Einen Vorgeschmack im Endlichen bieten jene kostbaren Augenblicke, in denen Zeit zur Ewigkeit gerinnt.

Psychologie und Religion

Die allermeisten Diskussionen von und mit Religiösen und Atheisten kranken an einem Missverstehen dessen, was der Mensch ist, und zwar von beiden Seiten. Da religiöse Schriften in einer dem heutigen Denken fremden Sprache geschrieben sind, ist eine Diskussion der Texte sinnlos. Den Schlüssel zu diesen Texten hätten wir zwar seit etwa hundert Jahren in der Tiefenpsychologie, doch die wird seit ebenfalls hundert Jahren verdrängt und verleugnet.

Psychotherapeut wird man nur, wenn man auch eine Selbstanalyse durchgemacht hat. Nur so weiß er/sie um sich und den Menschen in der Welt. Auch Religion beruht auf (Selbst)Erfahrung. Wer nur (an Dogmen der Kirchen) glaubt, steht auf derselben Stufe wie derjenige, der nichts glaubt. Daher hat eine Diskussion zwischen diesen beiden nichts mit Religion zu tun. Ein unreflektiertes Überschwemmtwerden mit Bildern geht genauso am Menschsein vorbei wie eine Überrationalisierung.

Worum geht es?

Wir finden uns heute als fragmentiertes Ich in einer fragmentierten Welt. Soweit die pathologische Grundsituation. Trotzdem sind wir (unbewusst) verbunden und angewiesen auf etwas, das dieses Ich übersteigt, auf eine größere Ganzheit, die C.G. Jung als „Selbst“ bezeichnet hat, und die als unser Eigenes ein Nicht-Ich ist. Diese „das Ich überragende und umfassende Ganzheit“ (Erich Neumann) ist in sich Beziehung, eine Ich-Selbst-Beziehung, die eine ständige unbewusste Spannung darstellt. Diese Beziehung ist, weil  zum Teil unbewusst, arational und paradox.

Der Mensch steht aber immer in Beziehung zu diesem ihm Unbekannten und Übergreifenden. In religiöser Sprache ist der Mensch Endliches, bezogen auf Unendliches. In psychologischer Sprache ist der Archetypus des Selbst nicht von den Gottesbildern zu unterscheiden. Der Archetypus ist schlichtweg unbewusst, und Gott ist das schlichtweg Unnennbare.

Ein weiteres Paradox ist die unbewusste (und irrationale) Grundlage des Menschen einerseits und di notwendige (rationale) Bewusstwerdung andererseits. Im Mythos lebten die Menschen in ihrer Ganzheit, aber dunkel und unbewusst. Heute leben wir in unserem rationalen Ich-Bewusstsein, aber als Fragmente, abgeschnitten von der umfassenden Ganzheit. Beides ist einseitig und vorläufig. Was wir brauchen wäre klare rationale Bewusstheit, aber bezogen auf unsere paradoxe, irrationale Ganzheit der Ich-Selbst-Beziehung.

Die „moderne“ Persönlichkeit ist immer bedroht zu einer Maske zu erstarren (persona = die Maske im griechischen Theater).  Lebendig macht nur die Beziehung zum Unsichtbaren, Unnennbaren, Ganzen – so wie der nicht sichtbare Schauspieler hinter der Maske die Figur lebendig macht. Die heutige Verleugnung dessen, was das Ich in der Persönlichkeit übersteigt und worauf das Ich bezogen bleibt, führt zur Fragmentierung und Erstarrung des Menschen. Der „moderne“ Mensch lebt nur einen fragmentarischen Ausschnitt seiner menschlichen Ganzheit. Dieses verengte Dasein führt zur Isolation und Vereinsamung, Angst (das Wort kommt von Enge) und Depression (in der das verleugnete Umfassende unbewusst erdrückend wird).

In der Außenwelt versuchen wir verzweifelt, auch die Welt zu fragmentieren, suchen in den Naturwissenschaften nach den „kleinsten Bausteinen der Welt“, und stellen fest, dass es so etwas gar nicht gibt, sondern sich in der Mikrowelt hinter den Hilfsvorstellungen von Teilchen und Welle wieder etwas nicht vorstellbares Ganzes verbirgt.

In der Gesellschaft führt diese fragmentierende Ich-Isolierung zur Entwurzelung und Unsicherheit, die anfällig macht für Manipulation und Massenphänomene, wie wir derzeit nur allzu deutlich erleben.

Die Therapie unserer Zeit wäre die Öffnung des fragmentierten und isolierten Ich hin zu einer das Ich übergreifenden und umfassenden Grundlage in einer paradoxen (weil bewusst-unbewussten) Ich-Selbst-Beziehung. Ein schwieriges Unterfangen, schon wegen unserer natürlichen Angst vor dem Irrationalen und Numinosen. Denn wie jede wesentliche Entwicklung Gegensätzliches enthält und braucht, so steht hinter der notwendigen Entwicklung zur Bewusstwerdung gleichzeitig die Angst vor dem unkontrollierbaren Übergreifenden. Bevor der Mensch seine Doppelnatur nicht akzeptiert (Endliches, bezogen auf Unendliches) ist die Angst größer als die zu erreichende Geborgenheit.

Es braucht die Rückverbindung (religio) des fragmentierten Ich in die eigene ich-überlegene Tiefe. Dazu sind einige Stufen notwendig: Das Aufgeben der erstarrten Persona, die Bewusstwerdung des Schattens, der eigenen verdrängten Negativ-Anteile der Psyche, was immer auch zu ethischen Dilemmata, zur Erfahrung von Konflikt und Leiden führt. „Das Annehmen dessen, was vom Kollektiv als böse angesehen wird, kann zu den Notwendigkeiten der Befreiung des Schöpferischen gehören, wie jede Revolution lehrt, die politische wie die religiöse, die ja immer mit dem verbrecherischen Zerbrechen alter Werte verbunden ist.“ (Erich Neumann).

Dazu kommt die Auseinandersetzung mit dem gegengeschlechtlichen Anteil im Menschen (Anima/Animus), entweder mit einem Partner oder innerpsychisch. Ziel dieses Individuationsprozesses ist die verlorengegangene Ich-Selbst-Einheit, „die Übereinstimmung des Menschen mit seiner echten Persönlichkeitsganzheit“ (Neumann). Psychologisch gesehen sind die Symbole des Selbst von den Gottesbildern oder -vorstellungen nicht zu unterscheiden.

Auch in den Religionen geht es vor allem um den Menschen und seine Entwicklung. Aber hier überschreiten wir die Grenze zur Theologie. Aber auch hier bleibt das Paradoxe erhalten. Im tiefsten Seelengrund finden wir das, was wir gewöhnlich Gott nennen (Ignatius v. Loyola), aber: „Einen Gott, den es gibt, gibt es nicht!“ (Dietrich Bonhoeffer). Das Aramäische konnte diese Paradoxie noch ausdrücken: Das Wort für „Vater“ (als menschliche Vorstellung) war identisch mit dem Wort für „Ursprung“, dem Urgrund allen Seins.

 

Hat Denken etwas mit der Wirklichkeit zu tun?

Unsere Logik funktioniert so, dass wir das, worum es eigentlich geht, nicht erkennen. Und das ist zunächst auch gut so, denn nur das garantiert die Offenheit, die durch diese Logik sonst verloren ginge.

dsc_0007In der Physik geht es um die Materie, in der Biologie um das Leben, in der Psychologie um die Seele, in der Philosophie um Weisheit, in der Theologie um Gott – und keine dieser Disziplinen kann erklären, worum es ihnen geht. Oberbegriffe sind nicht erklärbar. Die Physik kann nicht sagen, was Materie ist, sie verwendet nicht einmal diesen Begriff, sondern spricht von Masse, und das nur vorsichtig. Kein Biologe kann sagen, was Leben ist, usw.

Besonders schwierig hat es die Medizin. Sie behauptet krampfhaft, Naturwissenschaft zu sein, obwohl es um den Menschen geht, der in der Naturwissenschaft nicht vorkommt. Ärzte haben Menschen vor sich, beschäftigen sich aber nur mit deren Krankheit, nicht mit dem (gesunden) Menschen. Im Rahmen einer Ringvorlesung an der Uni Graz habe ich 1997 zum Thema „Hat Medizin etwas mit Gesundheit zu tun?“ gesprochen. Das Thema Gesundheit war damals etwas völlig Neues in der Medizin, die sich immer um Krankheit drehte. Allzu viel hat sich seither auch nicht geändert. Der Begriff „Prävention“ ist seither etabliert, hat aber immer noch nicht so viel mit Gesundheit zu tun, sondern bloß mit der „Verhinderung“ von Krankheit. Gesundheit würde sich um den Lebensstil und um den ganzen Menschen drehen, und da sind wiederum die Ärzte machtlos, denn da will niemand was ändern.

Hat Religion etwas mit Gott zu tun?, könnte man auch fragen. Wir sind gewohnt, Religion mit dem Glauben an Gott zu verwechseln. Doch sind die Menschen, die an Gott glauben und sich im Besitz der Wahrheit wähnen, wirklich religiös? Sehr oft nicht! Religion hat nicht (in erster Linie) mit Gott zu tun, sondern mit dem Menschen. Das Alte Testament ist voll von Mord und Totschlag, Hinterlist, Verleumdung und Lüge. Das der Religion oder gar Gott vorzuhalten, ist genauso dumm wie es blind zu ignorieren. Es geht ja um den Menschen, und da gibt es nichts schönzureden, der ist so, wie er ist. Das ist auch die theologische Aussage im Lebenslauf Jesu. Obwohl da nur die männliche Linie zählt – erst recht damals – kommen auch vier Frauen vor, Mörderinnen und Huren. Und bei den Männern fällt es nur deswegen nicht auf, weil deren Schattenseiten längst verdrängt wurden.

König David war ein mörderischer Kriegsherr. „Saul hat Tausend erschlagen, David aber Zehntausend.“ Und auch privat ging es um Mord und Ehebruch. Verheiratet war er mit mehreren Frauen. In religiöser Erinnerung ist David aber bloß als Verfasser vieler Psalmen und „das Haus Davids“, aus dem Jesus stammte, Davids andere Seite wird verdrängt. „David lebte vor dir [Gott] in Treue, Gerechtigkeit und mit aufrichtigem Herzen.“ Dass hier vom archetypischen Konflikt und Zwiespalt des Menschen die Rede ist, wie es in der Psychoanalyse wieder angesprochen wird, fällt kaum auf. In der Bibel steckt aber mehr Psychologie als in der modernen Psychologie bisher aufgearbeitet werden konnte.

Und wer Christus sieht, sieht Gott – allerdings ist Jesus auch Mensch als endliche Gestalt des Unendlichen, und selbst die Apostel haben ihn nicht erkannt, außer in Sternstunden, die ihnen „nicht Fleisch und Blut eingegeben hat“. Jesus hat gezeigt, wie Menschsein geht, und Religion hieße, ihm nachzufolgen. Wer glaubt, im Besitz der Wahrheit zu sein, nur weil er in die christliche Kultur hineingeboren ist, der ist bestenfalls ein Pharisäer, aber noch lange kein Christ.

Ähnlich verhält es sich mit der Physik, was für unser (pseudo-)naturwissenschaftliches Weltbild besser zu verstehen sein müsste – hätten wir nicht das letzte Jahrhundert verschlafen. Naturwissenschaften und speziell die Physik sind die methodische Beschränkung auf Materie in Raum und Zeit. Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts war die große Zeit der Physiker, die allesamt auch Philosophen waren: Max Planck, Albert Einstein, Niels Bohr, Werner Heisenberg, Wolfgang Pauli, Erwin Schrödinger, um nur einige zu nennen, die an der Quantenmechanik mitgearbeitet haben. In der nächsten Generation ist die Kluft zwischen Mathematik und Deutung wieder aufgebrochen. Hat Physik etwas mit Materie zu tun? Hans-Peter Dürr sagt es sehr drastisch: „Ich habe mich mein ganzes Forscherleben darum bemüht herauszubekommen, was Materie ist. Die Antwort ist ganz einfach: Es gibt sie nicht!“ Womit er nicht meint, dass alles Illusion ist, sondern dass unsere Vorstellung von Materie ein Produkt unseres Denkens ist, aber nicht der Wirklichkeit. Und dass die Materie im Innersten nichts mit unserer Vorstellung von Materie zu tun hat.

Die Entwicklung der Quantentheorie und der daraus folgenden neuen oder erweiterten Logik ist, genauso wie die Psychologie und Psychotherapie, nicht in ein allgemeines Weltbild eingegangen, das um 1900 steckengeblieben ist. So werden Historiker späterer Zeiten unsere Epoche nicht hochtrabend als Wissenszeitalter, Postmoderne oder gar als aufgeklärtes Zeitalter beschreiben, sondern als diejenige Zeit, die mit der Gegenwart nicht zurechtgekommen ist. Sie werden verständnislos das herrschende Weltbild beschreiben, das auf das naturwissenschaftlich Beschreibbare eingeengt wurde, bei gleichzeitiger Verleugnung eben dieser Naturwissenschaft.

 

Wenn Atheisten und Religiöse zum Psychologen gehen…

religionDie Krux unserer Zeit ist nicht der Säkularismus, sondern das Verleugnen oder Verdrängen der Psyche, ein psychologischer Analphabetismus, der zur religiösen Unmusikalität führen muss.

Es ist immer wieder hochinteressant, wenn z.B. auf Facebook gläubige Christen mit gläubigen Atheisten diskutieren. Meist sind dann die Fundamentalisten unter sich, das Niveau ist zwar ähnlich, kommt aber an das Thema, das man diskutieren will, gar nicht heran. „Natürlich gibt es Gott, er hat ja die Welt geschaffen.“ „Das ist ein Märchen aus alten Zeiten, man kann Gott nicht beweisen, also gibt es ihn auch nicht.“ Damit wäre das Thema auch schon vollständig umrissen, das da Stoff für endlose Streitgespräche liefert. Eigentlich könnte man es damit auch vergessen, denn das Niveau ist meist unter jeder Kritik, und mit Religion hat das ohnehin nichts zu tun.

  1. Religion lässt sich nicht auf die Frage reduzieren, ob es Gott gibt oder nicht, noch weniger darauf, ob man ihn beweisen kann oder nicht. „Einen Gott, den es gibt, gibt es nicht!“, sagte schon Dietrich Bonhoeffer. Er wäre ja sonst ein Ding unter anderen, und damit wäre er wirklich zu beweisen. Und könnte man ihn beweisen, dann gäbe es ihn nicht! Da es nun nicht mal die Welt (als Ganzes) „gibt“ (Markus Gabriel), „gibt“ es auch Gott in dem Sinne nicht. Und Gott sei Dank kann man ihn nicht beweisen, denn dann wäre das ganze Reden von Gott unsinnig.

In religiöser Sprache heißt das „Du sollst dir kein Bild machen!“ Das heißt, jede Vorstellung von Gott ist irgendwie schon falsch. In atheistischer Sprache heißt das: Das Ganze kommt in der Welt nicht vor, es wäre aber unsinnig, es zu leugnen. Ob man es nun das Ganze, das Absolute oder Gott nennt, ist da nebensächlich.

Und das „Man kann ihn nicht beweisen, also gibt es ihn nicht“ ist so ein Stammtischsatz im pseudowissenschaftlichen Gewand. Beweisen kann man nur Sätze der Mathematik, sonst ist nichts in der Welt beweisbar, nicht mal die Naturgesetze. Die sind verlässlich, aber nicht beweisbar (Herbert Pietschmann). Wenn also Atheisten sich naturwissenschaftlich geben wollen, dann dürften sie das Wort „Beweis“ in dem Zusammenhang gar nicht in den Mund nehmen.

  1. Wer nur Naturwissenschaft als „Realität“ anerkennt, verdrängt die Wirklichkeit. „Real“ ist die dingliche, objektive Welt. Wirklich ist alles das, was wirkt. Wer sich hier ausschließlich an die Physik klammert, hat nicht begriffen, dass eben die Quantenphysik gezeigt hat, dass es eine bloß „objektive Realität“ gar nicht gibt. Die (physikalische) Welt ist immer so, wie wir hinschauen.

Natürlich wird den Religiösen immer die Aufklärung um die Ohren gehauen. Das ist aber eher ein Schuss, der nach hinten losgeht. Erstens ist das ein völlig naives Argument, denn es gibt nichts in der Welt, das nur positiv oder nur negativ wäre.  So hat auch die Aufklärung zum Segen der Menschheit mit vielem Unsinn aufgeräumt, aber andererseits das Weltbild auf Schrebergartenniveau reduziert. Es zählt nur mehr das Objektive, Gegenständliche, Reale! Und was ist mit all dem anderen? Ludwig Wittgenstein brachte es auf den Punkt: „Wir fühlen, dass selbst wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind.“ (Tractatus 6.52)

Wer sich nur an die Naturwissenschaft hält, die sich mit Materie in Raum und Zeit befasst (ohne sagen zu können, was Materie ist; und sie tut das auch nicht), hat damit alles Menschliche ausgeschlossen! Die Frage „Was ist der Mensch?“ versucht nämlich das gesamte Fächerspektrum – von der Physik über die Biologie und Psychologie, bis zur Philosophie und Theologie – gemeinsam zu beantworten. Am allerwenigsten aber die Naturwissenschaft, und die am allerwenigsten, wenn man die Quantenphysik außen vor lässt.

  1. Wir sind nicht vom mythologischen ins Zeitalter der Aufklärung gekommen (die steht uns eigentlich noch bevor!), sondern vom Zeitalter der Mythologie ins Zeitalter der Verdrängung. Unser Weltbild ist ungefähr um 1900 steckengeblieben. Dann kamen zwei Großereignisse, nämlich die Quantenmechanik und die Tiefenpsychologie. Aber erstere ist so unverständlich, dass sie nie in eine allgemeines Weltbild eingegangen wäre, und zu letzterer sagte Erwin Ringel: „Wir leben so, als ob das Unbewusste nie entdeckt worden wäre.“ Über weite Strecken ist das heute noch so.

Wir leben daher nicht nur in einem säkularen Zeitalter, das die Religion verdrängt hat, sondern auch in einem pseudo-naturwissenschaftlichen Zeitalter, das die Psychologie verdrängt. Das Peinliche daran: Die Psyche ist ja nicht etwas, das wir haben, sondern das wir SIND. Wir verdrängen damit unser Menschsein (siehe Wittgenstein). Wir glauben damit an „Tatsachen“, nicht daran, dass alle Tatsachen interpretiert werden (müssen). Selbst die Quantentheorie ist zwar die meist „bewiesene“ Theorie der Physik, sie muss aber interpretiert werden, und über die Deutung der Quantentheorie sind sich die Physiker auch nach 100 Jahren noch nicht einig. Außerdem: „Auch die Wissenschaft spricht nur in Gleichnissen“ (Hans-Peter Dürr). Wer auf Fakten insistiert, verdrängt, dass es bloße Fakten nicht gibt.

  1. Die Inkompatibilität der (fundamentalistischen) Atheisten und Religiösen liegt daran, dass das „Bindeglied“ fehlt oder von beiden Seiten verdrängt wird, nämlich die Psychologie. Beide lesen die Bibel, als wären das „Fakten“ (die es, wohl gemerkt, nicht mal in der Physik gibt). Mit anderen Worten: Beide Seiten lesen die Bibel wörtlich. Dazu sagt die Bibel selbst: „Der Buchstabe tötet, nur der Geist macht lebendig!“ Es geht nicht um Begriffe (die Begriffssprache ist eine neuzeitliche Erfindung), damals gab es nur eine Bilder- bzw. Symbolsprache. Während Begriffe ganz klar die (dingliche) Oberfläche von Phänomenen ausdrücken, sprechen Symbole diffus von der Ganzheit eines Phänomens auf allen Ebenen. Diese Symbole können daher historisch, psychologisch, philosophisch oder theologisch ausgelegt werden, und sie werden auf allen Ebenen stimmig sein. Und die Frage „Wie war es wirklich?“ ist eine neuzeitliche Frage, die sich vorher nie gestellt hat. Diese Frage ist eine Präzisierung, aber auch Einengung.

Wer wirklich religiös ist, liest die Bibel als seine eigene Geschichte. Er ist der Lahme, der nicht weiterkommt, der Blinde, der nicht sehen kann, der Taube, der nicht hört, er lässt sich heilen und ist in allen Episoden selbst involviert. Die Bibel ist ihm Geschichte des Menschseins mit allen Gräueln, die es auch auszeichnen. Das ist nicht „brutal“, sondern realistisch. Und es gibt in der Bibel eine menschliche Evolution, lange bevor Darwin diesen Begriff geprägt hat. Vom Ausrotten des ganzen Stammes, wenn einer daraus einen Mord beging, über das „maßvollere“ Aug um Auge bis zum „Liebe deinen Nächsten und sogar deine Feinde“. Religion wäre ohne Evolution und Entwicklung völliger Unsinn.

  1. Abgesehen davon, wie religiöse Texte zu lesen sind, nämlich in der Bilder- und Symbolsprache, in der sie damals geschrieben wurden, gibt es noch etwas anderes, das zu differenzieren wäre: Es geht gar nicht vordergründig um die Frage, ob es Gott gibt oder nicht gibt, sondern darum, dass wir sozusagen Psyche SIND und das Göttliche unbestreitbar psychische Wirklichkeit ist. In diesem Sinne kann man gar nicht leugnen, dass es Gott (als psychische Wirklichkeit) gibt.

„Der Gottesbegriff ist nämlich eine schlechthin notwendige psychologische Funktion irrationaler Natur, die mit der Frage nach der Existenz Gottes überhaupt nichts zu tun hat. Denn diese letztere Frage kann der menschliche Intellekt niemals beantworten; noch weniger kann es irgendeinen Gottesbeweis geben. Überdies ist ein solcher auch überflüssig; denn die Idee eines übermächtigen, göttlichen Wesens ist überall vorhanden, wenn nicht bewusst, so doch unbewusst, denn sie ist ein Archetypus. Irgendetwas in unserer Seele ist von superiorer Gewalt … Ich halte es darum für weiser, die Idee Gottes bewusst anzuerkennen; denn sonst wird einfach irgendetwas anderes zum Gott, in der Regel etwas sehr Unzulängliches und Dummes, was ein ‚aufgeklärtes‘ Bewusstsein so etwa aushecken mag.“ (C.G. Jung, „Über die Psychologie des Unbewussten“)

Damit ist auch klar, was der Schatten der Aufklärung oder eines pseudo-naturwissenschaftlichen Weltbildes ist: Der Mensch ist nicht nur bewusste Rationalität, sondern auch und viel mehr irrationales Unbewusstes. Wer nur auf dem Rationalen insistiert, verdrängt das Irrationale, das ins Unbewusste sinkt, und dort wirkt, bis es an irgendeiner Stelle wieder aufbricht.

  1. Damit sind wir bei der Ambivalenz, der Zwiespältigkeit oder Gebrochenheit des menschlichen Seins. Leben heißt immer Gegensatz. (Politische) Utopien sind einseitige „Vergöttlichungen“ von Idealen, inklusive Verdrängen des (dämonischen) Gegenpols. Der lässt sich verdrängen, aber nicht auf lange Sicht. Einseitige Weltbilder haben sich daher immer als gefährlich erwiesen.

„So schön und vollkommen der Mensch seine Vernunft finden darf, so gewiss darf er auch sein, dass sie immerhin nur eine der möglichen geistigen Funktionen ist und sich nur mit einer ihr entsprechenden Seite der Weltphänomene deckt. Auf allen Seiten aber liegt drum herum das Irrationale, das mit Vernunft nicht Übereinstimmende. Und dieses Irrationale ist ebenfalls eine psychologische Funktion, eben das kollektive Unbewusste, während die Vernunft wesentlich an das Bewusstsein gebunden ist.“ (C.G. Jung, ebda.)

Keine Aufklärung kann verhindern – nur verdrängen – dass das Irrationale auch im Menschen ist. Und da es über den individuellen Menschen hinausgeht, ist es schon deshalb nicht in den Griff zu bekommen. Dabei darf man auch die regulierende Funktion der Gegensätze nicht vergessen, die schon Heraklit erwähnt hat, der sagte, dass alles einmal in sein Gegenteil hineinlaufe. „So läuft die rationale Kultureinstellung notwendigerweise in ihr Gegenteil, nämlich in die irrationale Kulturverwüstung.“ Jung hat diesen Satz während des Ersten Weltkriegs geschrieben. 1925 ergänzte er in einer Fußnote: „Ich habe ihn in seiner ursprünglichen Form stehen lassen; denn er enthält eine Wahrheit, die sich noch mehr als einmal im Verlauf der Geschichte bestätigen wird.“ 1942 fügte er noch hinzu: „Wie die gegenwärtigen Ereignisse zeigen, hat die Bestätigung nicht allzu lange auf sich warten lassen. Wer will eigentlich diese blinde Zerstörung? …. Aber alle helfen dem Dämon mit letzter Hingabe. O sancta simplicitas!“

Es kann gefährlich sein, sich nur mit der Vernunft zu identifizieren, der Mensch ist nicht bloß vernünftig und wird es niemals sein, betont Jung. „Das Irrationale soll und kann nicht ausgerottet werden. Die Götter können und dürfen nicht sterben.“ Eher können und müssen wir es integrieren und auch noch unterscheiden zwischen individueller und kollektiver Psyche. Was wir heute nur an der Religion (vermittelt durch die Psychologie, ohne die Religion nicht zu verstehen ist) lernen können, ist das Auseinandergerissensein in die Gegensatzpaare, das schon Heraklit angesprochen hat. Wer das Göttliche (in seiner Psyche) verdrängt, läuft Gefahr, dass es als Dämon irgendwo wieder zutage tritt. Genau das passierte in der Aufklärung: Die einseitige Vergöttlichung von Idealvorstellungen rief den Gegensatz auf den Plan, und die Aufklärung klang aus in den Grausamkeiten der Französischen Revolution. Was von den Aufklärungsgläubigen wiederum verdrängt werden muss.

Ebenso ergeht es aber den Religiösen: Wenn sie sich an einen einseitig verklärten „Wahrheitsbesitz“ halten, dann wird der eigene Schatten immer mächtiger. Das äußert sich in Ausgrenzung und Verteufelung: die anderen sind alle Lügner, wurden oft tatsächlich ausgerottet (Albigenser, Inquisition – obwohl das das Weltliche mindestens ebenso am Werk war), in einer „Moral“, die über Leichen geht. Die Islamophobie geht heute wieder genau in diese Richtung.

  1. Fundamentalistische Atheisten verleugnen durch ihre Vergöttlichung der Ratio alles Menschliche, das auf innerer Gegensätzlichkeit, Konflikt und Entzweiung (mit sich selbst) beruht. Ihre Welt ist immer nur die halbe Welt.

Fundamentalistische Religiöse richten ihren „verklärten“ Blick auf Gott, während ihr eigener verdrängter Schatten sie unbarmherzig, kalt und empathielos macht.

Beide verkrallen sich in die Frage, ob es Gott gibt oder nicht gibt, und vergessen dabei, dass Religion in ihrem Wesen vielmehr die Frage nach dem Menschsein ist.

Diese endlosen Diskussionen belegen nur einen religiösen Analphabetismus auf beiden Seiten.

Todestrieb

So gibt es ihn doch,

den Todestrieb?

Nicht als Drang zur Vernichtung,

sondern wehmütiges Drängen

in ein anderes, nicht dieses Leben.

 

Als Suche nach dem Ideal,

von Grenzen nur behindert,

der Endlichkeit zu entgehen,

dem Hier zu sterben,

um dort scheinbar zu leben.

 

Es wäre so einfach

sich der Begrenzung zu ergeben.

Der bunte Vogel

singt auch im Käfig,

und im Träumen wär er frei.

 

Doch ist es so schwer

im Gestein das Ewige zu sehen.

So verwerfen wir den Stein,

wieder verbunden im Innern,

dem Außen entschwunden.

 

Wie tiefgehend und so real,

doch eine andere Realität.

Dem Hier und Jetzt verdorben,

denn im Realen nicht zu sein,

nennt man doch gestorben.

 

Das Leben im Ideal ist stilles Glück,

das Endlichkeit nicht bieten kann.

Doch  wiegt ein einziges Aufblitzen

durch Begrenzung hindurch

knochenlose Verbundenheit auf.