Unsere Logik funktioniert so, dass wir das, worum es eigentlich geht, nicht erkennen. Und das ist zunächst auch gut so, denn nur das garantiert die Offenheit, die durch diese Logik sonst verloren ginge.
In der Physik geht es um die Materie, in der Biologie um das Leben, in der Psychologie um die Seele, in der Philosophie um Weisheit, in der Theologie um Gott – und keine dieser Disziplinen kann erklären, worum es ihnen geht. Oberbegriffe sind nicht erklärbar. Die Physik kann nicht sagen, was Materie ist, sie verwendet nicht einmal diesen Begriff, sondern spricht von Masse, und das nur vorsichtig. Kein Biologe kann sagen, was Leben ist, usw.
Besonders schwierig hat es die Medizin. Sie behauptet krampfhaft, Naturwissenschaft zu sein, obwohl es um den Menschen geht, der in der Naturwissenschaft nicht vorkommt. Ärzte haben Menschen vor sich, beschäftigen sich aber nur mit deren Krankheit, nicht mit dem (gesunden) Menschen. Im Rahmen einer Ringvorlesung an der Uni Graz habe ich 1997 zum Thema „Hat Medizin etwas mit Gesundheit zu tun?“ gesprochen. Das Thema Gesundheit war damals etwas völlig Neues in der Medizin, die sich immer um Krankheit drehte. Allzu viel hat sich seither auch nicht geändert. Der Begriff „Prävention“ ist seither etabliert, hat aber immer noch nicht so viel mit Gesundheit zu tun, sondern bloß mit der „Verhinderung“ von Krankheit. Gesundheit würde sich um den Lebensstil und um den ganzen Menschen drehen, und da sind wiederum die Ärzte machtlos, denn da will niemand was ändern.
Hat Religion etwas mit Gott zu tun?, könnte man auch fragen. Wir sind gewohnt, Religion mit dem Glauben an Gott zu verwechseln. Doch sind die Menschen, die an Gott glauben und sich im Besitz der Wahrheit wähnen, wirklich religiös? Sehr oft nicht! Religion hat nicht (in erster Linie) mit Gott zu tun, sondern mit dem Menschen. Das Alte Testament ist voll von Mord und Totschlag, Hinterlist, Verleumdung und Lüge. Das der Religion oder gar Gott vorzuhalten, ist genauso dumm wie es blind zu ignorieren. Es geht ja um den Menschen, und da gibt es nichts schönzureden, der ist so, wie er ist. Das ist auch die theologische Aussage im Lebenslauf Jesu. Obwohl da nur die männliche Linie zählt – erst recht damals – kommen auch vier Frauen vor, Mörderinnen und Huren. Und bei den Männern fällt es nur deswegen nicht auf, weil deren Schattenseiten längst verdrängt wurden.
König David war ein mörderischer Kriegsherr. „Saul hat Tausend erschlagen, David aber Zehntausend.“ Und auch privat ging es um Mord und Ehebruch. Verheiratet war er mit mehreren Frauen. In religiöser Erinnerung ist David aber bloß als Verfasser vieler Psalmen und „das Haus Davids“, aus dem Jesus stammte, Davids andere Seite wird verdrängt. „David lebte vor dir [Gott] in Treue, Gerechtigkeit und mit aufrichtigem Herzen.“ Dass hier vom archetypischen Konflikt und Zwiespalt des Menschen die Rede ist, wie es in der Psychoanalyse wieder angesprochen wird, fällt kaum auf. In der Bibel steckt aber mehr Psychologie als in der modernen Psychologie bisher aufgearbeitet werden konnte.
Und wer Christus sieht, sieht Gott – allerdings ist Jesus auch Mensch als endliche Gestalt des Unendlichen, und selbst die Apostel haben ihn nicht erkannt, außer in Sternstunden, die ihnen „nicht Fleisch und Blut eingegeben hat“. Jesus hat gezeigt, wie Menschsein geht, und Religion hieße, ihm nachzufolgen. Wer glaubt, im Besitz der Wahrheit zu sein, nur weil er in die christliche Kultur hineingeboren ist, der ist bestenfalls ein Pharisäer, aber noch lange kein Christ.
Ähnlich verhält es sich mit der Physik, was für unser (pseudo-)naturwissenschaftliches Weltbild besser zu verstehen sein müsste – hätten wir nicht das letzte Jahrhundert verschlafen. Naturwissenschaften und speziell die Physik sind die methodische Beschränkung auf Materie in Raum und Zeit. Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts war die große Zeit der Physiker, die allesamt auch Philosophen waren: Max Planck, Albert Einstein, Niels Bohr, Werner Heisenberg, Wolfgang Pauli, Erwin Schrödinger, um nur einige zu nennen, die an der Quantenmechanik mitgearbeitet haben. In der nächsten Generation ist die Kluft zwischen Mathematik und Deutung wieder aufgebrochen. Hat Physik etwas mit Materie zu tun? Hans-Peter Dürr sagt es sehr drastisch: „Ich habe mich mein ganzes Forscherleben darum bemüht herauszubekommen, was Materie ist. Die Antwort ist ganz einfach: Es gibt sie nicht!“ Womit er nicht meint, dass alles Illusion ist, sondern dass unsere Vorstellung von Materie ein Produkt unseres Denkens ist, aber nicht der Wirklichkeit. Und dass die Materie im Innersten nichts mit unserer Vorstellung von Materie zu tun hat.
Die Entwicklung der Quantentheorie und der daraus folgenden neuen oder erweiterten Logik ist, genauso wie die Psychologie und Psychotherapie, nicht in ein allgemeines Weltbild eingegangen, das um 1900 steckengeblieben ist. So werden Historiker späterer Zeiten unsere Epoche nicht hochtrabend als Wissenszeitalter, Postmoderne oder gar als aufgeklärtes Zeitalter beschreiben, sondern als diejenige Zeit, die mit der Gegenwart nicht zurechtgekommen ist. Sie werden verständnislos das herrschende Weltbild beschreiben, das auf das naturwissenschaftlich Beschreibbare eingeengt wurde, bei gleichzeitiger Verleugnung eben dieser Naturwissenschaft.