Gesundheitsreform: „Neu ist, dass es zu tun ist…”

“Best Point of Service”, einer der zentralen Begriffe im Gesetzestext zur aktuellen Gesundheitsreform. Allerdings wäre schon viel gewonnen, wenn klar wäre, was damit gemeint ist. Eine Veranstaltung der Karl Landsteiner Gesellschaft versuchte, dies zu klären.

In einem Impulsreferat versuchte Dr. Reinhold Glehr, Präsident, Österreichische Gesellschaft für Allgemein- und Familienmedizin, eine Definition: „die richtige Leistung zur richtigen Zeit am richtigen Ort in der richtigen Qualität“. Eine konkretere Antwort scheitert an der Komplexität, die heute zunehmend bewusst wird. Es gäbe zu viele Variablen, um damit klar zu kommen.

Dr. Clemens Martin Auer, Sektionschef im Bundesministerium für Gesundheit, brachte es gleich eingangs auf den Punkt: „Vieles an dieser Analyse ist alt, neu ist nur, dass es zu tun ist!“ Um später hinzuzusetzen: „Sie müssten mich und Probst mit nassen Fetzen vom Podium jagen, wenn wir es jetzt nicht tun!“

Einfach wiederzukäuen, was seit Jahrzehnten ohnehin klar ist, bringt uns also nicht weiter. Versuchen wir’s einmal etwas anders:

1. Am Anfang steht die Einsicht, dass wir zwar „eines der besten Gesundheitssysteme“ haben, dass aber so einiges im Argen liegt. Und je länger alles klar ist, aber nichts getan wird, desto auffälliger wird das, was nicht stimmt in diesem System. Wir brauchen nicht nur ein gutes, sondern ein zeitgemäßes Gesundheitssystem.

2. Unser Gesundheitssystem ist spitalslastig (Auer). Was ganz besonders im Argen liegt, ist die Geringschätzung der Allgemeinmedizin, der schleichende Kompetenzentzug der Allgemeinmediziner, die Abwertung der Hausärzte und der Gesprächsmedizin. Dem gegenüber steht eine völlige Überschätzung der Hochtechnologie und der Aussagekraft von evidenzbasierten Studien.

3. Am Anfang steht die Frage: „Wos brauch ma des?“ Nämlich Hausärzte, Allgemein- und Familienmedizin. Wer Hausarzt sagt, sagt Kontinuität, wer Allgemeinmedizin sagt, sagt Gesprächsmedizin (die er heute nahezu unentgeltlich erbringen darf). Inkludiert ist der Blick für das Individuelle, das nicht Reproduzierbare (!), den ganz konkreten Patienten, der in den evidenzbasierten Studien nicht vorkommt. DEN Patienten (wie ihn die EBM braucht) gibt es leider nicht.

4. „Wir haben fast zu viel von allem“, stellte Dr. Josef Probst, Generaldirektor, Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger, unisono mit Dr. Auer fest. Nämlich die meisten Ärzte pro 10.000 Einwohner, Hochtechnologie und die entsprechenden Geräte usw. Es fehlt nur gewaltig an einer geeigneten und zeitgemäßen Struktur. Allerdings muss man bei den Köpfen einkalkulieren, dass in nächster Zeit eine Pensionierungswelle auf uns zukommt. Wodurch andererseits eine Erneuerung leichter durchzubringen sein wird.

5. Womit wir beim Umbruch der Arbeitswelt und der Einstellung zu dieser wären. Fakt ist eine zunehmende Feminisierung der Ärzteschaft (Auer, Probst). Was der bisherigen maskulinen Medizin nur gut tun kann! Es bedurfte der Publikumsdiskussion, um diese Tatsache zu gendern und festzustellen, dass heute auch Männer ganz andere Vorstellungen vom Beruf haben.

6. Ärzte sind Einzelkämpfer, das war einmal – zumindest generell.  „Junge Ärzte möchten nicht als Einzelkämpfer arbeiten, aber auch nicht in der Hackordnung eines Krankenhauses.“ (Auer). Es wird sie weiter geben, aber daneben andere, zeitgemäßere Arbeitsformen, Ärztezentren, Ärztenetzwerke, Kooperation mit diplomierter Pflege und anderen Gesundheitsberufen, Tageskliniken. „Unnötig im Spital liegen ist nicht gesund!“ (Probst). Aber, so Dr. Auer, die Ärzteschaft wird sich selbst um neue Organisationsformen kümmern müssen, sonst werden es andere machen, und die Ärzte werden sich als Angestellte wiederfinden.

6. Es wird nicht gehen ohne neue Vertragsformen, neue Honorierungsmodelle und Bezahlformen (Auer). „Es hat rationale Gründe, Gruppenpraxen nicht zu machen“ (Mag. Andrea Fried, Bundesgeschäftsführerin, ARGE Selbsthilfe Österreich), z.B. finanzielle Einbußen. Es braucht daher eine radikale Reform der Honorierung. „Wir haben keine evidenzbasierte, sondern eine honorarbasierte Medizin.“ (Fried). Und Mag. Fried bringt gleich ein Beispiel: In Kärnten machen Allgemeinmediziner ein Blutbild, um dann zu entscheiden, ob Antibiotikum oder nicht. In Wien fragen sie, ob der Auswurf grün oder sonstwas ist, und verschreiben in jedem Fall Antibiotika. In Kärnten wird das Blutbild bezahlt, in Wien nicht… In diesem Zusammenhang gesteht Sektionschef Auer einen großen Fehler ein: Er habe erst vor kurzem zum ersten Mal eine Honorarordnung einer Gebietskrankenkasse eingesehen, und da fiel es ihm wie Schuppen von den Augen, und er wusste plötzlich, warum manches so ist, wie es ist. Wenn z. B. Wundwechsel in Wien nicht bezahlt wird, dann wird es den in Wien nicht geben. Auch Dr. Probst gestand, dass er nicht alle Honorarordnungen kenne. Aber das kann ein Einzelner wahrscheinlich auch nicht.

7. Es braucht Transparenz. Auch da waren alle ziemlich einig. Dr. Auer setzt hinzu: „Das passt nicht allen!“ Und weiter: „Das Geld vernünftig auszugeben, wäre auch früher schon möglich gewesen. Möglicherweise erfreulich: Es gibt einen konkreten Zeitplan. Bis Sommer soll das Modell definiert sein, dann werden Pilotprojekte aufgesetzt. „Am 1.1.2016 wird die Welt nicht neu sein“, so Dr. Auer, „es wird Parallelität geben, und es wird ein evolutionärer Prozess sein.“

8. Natürlich braucht es eine Ausbildungsreform. Es fehlt eine zeitgemäße Ausbildung (Auer). Stichwort Lehrpraxis, da wäre sofort etwas zu tun (Probst). Stichwort: die Guten gehen ins Ausland. Oder: „Wir sollten auch prüfen, ob wir mit den Aufnahmetests nicht Menschen herausfiltern, die gute Ärzte, gute Allgemeinmediziner geworden wären!“ (Probst).

9. Wenn die Perspektive nicht eine Gesamtreform ist, dann wird alles so bleiben, wie es ist! Dass Reform als Flickwerk nicht funktioniert, haben wir bereits evaluiert. Aber wie hieß es doch so schön: „Neu ist nur, dass es zu tun ist!“

PS.:

10. Was (wieder) nicht zur Sprache kam: Wo in unserem viel gepriesenen Gesundheitssystem das Geld einfach beim Fenster hinausgeschmissen wird. Etwa am Lebensende, wo immer behauptet wird, dass im letzten (halben) Jahr mehr ausgegeben wird als all die Jahre zuvor. Was aber nicht (nur) daran liegt, das die Menschen in dieser Phase meist krank sind, sondern auch und vor allem daran, dass in dieser Phase noch einmal alles technisch Mögliche aufgefahren wird, was oft sinnlos ist und die Patienten nur unnötig quält. Ausrede ist immer die juridische Perspektive, aber kein Jurist der Welt verlangt, dass alles, was technisch möglich ist, auch in jedem Fall gemacht werden muss. Hier hätten wir einen klassischen Fall von Umschichtung der Ressourcen: Weg von unnötiger Hochtechnologie, hin zur bitter notwendigen Palliativmedizin.

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